WILDE NATUR UND GRÜNE STRAHLEN


Die Landschaftsplanung der Fondazione Prada und das Manifest der Raggi Verdi von LAND – zwei Beiträge zur Stadtentwicklung Mailands

© Courtesy Fondazione Prada, Foto Matteo Carassale

Blick in den Hof der Fondazione Prada vom Dach des Kinogebäudes aus

Mailand – Es geht um das Erleben von Stadt als ein mit Natur gefüllter Raum und die Aneignung des grünen Erbes von Mailand. In der Auseinandersetzung um grundlegende Fragen urbaner Entwicklung treffen sich ideell zwei voneinander unabhängige Initiativen: Das Manifest der Raggi Verdi, das gerade für eine kleine interne Ausstellung von dem Beratungs- und Planungsunternehmen LAND verfasst wurde, und die Veröffentlichung #35 Urbano Rurale Selvatico („Urban Ländlich Wild“), eine Dokumentation der landschaftlichen Gestaltung bei der Umwandlung eines ehemaligen Industriebetriebes zum Mailänder Sitz der Fondazione Prada.

Mailand steht als Metropole an der geographischen wie ökonomisch-politischen Schnittstelle zwischen Süden und Norden in einem dynamischen Austausch mit dem europäischen Umfeld. Im globalen Wandel treffen hier zwei Phänomene aufeinander, die für die Zukunft unserer Städte prägend sind: die wachsende und sich weiter verdichtende Metropolregion bei gleichzeitiger Schrumpfung der industriellen Nutzung urbaner Räume. Und während die Stadt sich in die Landschaft weitet, sucht die Landschaft Wege in die Stadt. Damit diese endlich als urbane Landschaft wahrgenommen wird, braucht sie Gerüst, eine System von Wegen, das alternativ zur asphaltierten Verkehrsstrecken den Menschen Bewegungsräume anbietet, um eine neue urbane Lebensqualität zu entwickeln – das sind die Raggi Verdi, die grünen Strahlen.

© LAND

Masterplan der Raggi Verdi (grüne Strahlen) von Mailand

Sie fließen vom Zentrum aus durch die Stadt, geben ihr Halt und führen hinaus ins Umland. Sie verbinden kleine, oft vergessene natürliche Fragmente mit postindustriell aufgelassenen Freiräumen und fügen bekannte wie unbekannte Gärten und Parkanlagen zu einem System . Vor 20 Jahren wurde bei LAND Mailand die Strategie der Raggi Verdi entwickelt, die inzwischen international Schule gemacht hat, wie eine Ausstellung in der „Wunderkammer“ der Via Varese unterstreicht. Ein Masterplan mit Strahlen, deren natürliche Puzzle-Teile nicht abgesteckt voneinander gesetzt sind, sondern statt der Grenzen jeweils durchlässige Säume suchen und so die Stadt für einen nachhaltigen Umbau grün erschließen. Denn öffentliche Räume, heißt es in dem Manifest von LAND (Text siehe unten) zu den Raggi Verdi, „müssen wieder in Besitz genommen werden, damit jeder die Möglichkeit bekommt, die Stadt zu erleben.“ „Grüne Strahlen brechen die alte Stadt auf und bilden ein Gerüst grün/blauer Infrastrukturen, die die Stadt aufleuchten lassen“, so der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Andreas Kipar, Gründer und Leiter von LAND über die Bedeutung von Natur.

© LAND, Foto: Ralph Richter

Andreas Kipar, Landschaftsarchitekt und Urbanist. Er leitet das Beratungs- und Planungsunternehmen LAND mit Niederlassungen in Mailand, Düsseldorf, Wien, Lugano und Montreal

Die Rolle der Natur in der Fondazione Prada

Miuccia Prada wiederum, Präsidentin der Prada-Kulturstiftung und Mitinhaberin der Prada-Holding,, beschreibt die Rolle der Natur bei der Umgestaltung einer ehemaligen Industrieanlage zum Ausstellungszentrum, was man als eine ideelle Tangente zu den Raggi Verdi verstehen kann: „Die Kräuter, Sträucher und Bäume in der Fondazione Prada sind von der kulturellen Identität des Mailänder Raums und seiner industriellen Vergangenheit inspiriert. In der Brennerei aus dem frühen 20. Jahrhundert, die zunächst in ein Lagerhaus und dann in ein Ausstellungszentrum umgewandelt wurde, finden sich die Bezüge zur Vergangenheit nicht nur in der erhaltenen Industriearchitektur, sondern auch in der Beziehung zur Natur der Umgebung und seiner landwirtschaftlichen Vergangenheit.“

Courtesy Fondazione Prada, Foto Matteo Carassale

„Wilde“ Dachbepflanzung des Kinos der Prada Kulturstiftung

Davon zeugen u.a. einerseits Maulbeer- und Feigenbäume in den Höfen der Fondazione Prada.  Anderseits überrascht die Kreation „wilder“ Natur auf dem Dach des Kinosaales sowie in den Außenbereichen der Anlage unweit der Porta Romana. In unmittelbarer Nähe liegen Schienenstränge der Regionalbahn sowie weitläufigen Flächen eines seit Jahren ungenutzten Verschiebebahnhofs. Was sich hier unter freier vegetativer Kraft gleichsam zu einem urbanen Biotop ungeplant, also wild entwickelt hat, wird bei Prada aufgegriffen und planerisch eingesetzt. Und bildet so in einer Art Oxymoron als Konstruktion von Wildnis ein Gedächtnis vom Kreislauf der Natur und dem stetigen Wandel.

Symbiose von Alt und Neu, Konservierung und Rekonstruktion, Ödland und Agrarland.

In drei Heften der Veröffentlichung #35 Urbano Rurale Selvatico wird die Beziehung der Fondazione zum Mailänder Naturraum mit Texten und Fotografien dokumentiert. Das Heft Progetto (Projekt) beschreibt in einem Essay der Landschaftsarchitektin Maria Teresa D’Agostino die Planung, natürlichen Elemente bei der Umwandlung der ehemaligen Industrieanlage durch das Studio OMA (Rotterdam) einzusetzen. Beschrieben wird das Prinzip der Symbiose von Alt und Neu, Konservierung und Rekonstruktion, Ödland und Agrarland.

Im Heft Ricerca (Forschung) geht es mit einer Reihe von Beiträgen (u.a. von Liberesco Guglielmi, Gilles Clément, Eryck de Rubercy) um unterschiedliche Themen urbaner Landschaften wie Park- und Gartentechnik oder die grundsätzliche Beziehung Mensch und Natur. Auch werden Nebenaspekte wie die Rolle von Duft in der Landschaft aufgegriffen. Das Heft Erbario (Herabarium) schließlich liefert eine botanische Datei zu mehr als 40 Arten von Pflanzen, die im Projekt der Fondazione Prada eine Rolle spielen.

© Cluverius

Eisenbahnstrecke am ehemaligen Verschiebungsbahnhof Porta Romana bereit zum Umbau in eine Wohn- und Parkanlage – im Hintergrund links der weiße Turm der Fondazione Prada

Diese Dokumentation ist umso notwendiger, weil das benachbarte ehemalige Eisenbahngelände zu einer Wohn- und Parkanlage umgestaltet werden wird und u.a. das olympische Dorf für die Winterspiele 2026 aufnehmen soll. Erhalten bleibt ein Schienenstrang für Regionalzüge unter einer von LAND geplanten begehbaren und mit Naturelementen geprägten Dachpassage nach dem Modell der New Yorker High Line.

Eine Anlage, die dann Eingang in die Planung der grünen Strahlen Mailands finden kann. Wobei man sich wünschen würde, dass die Stadtverwaltung, die die grünen Strahlen in den Flächennutzungsplan aufgenommen hat, sie etwa durch Hinweistafeln oder digitale Wegweiser auch für die Bevölkerung sicht- und erlebbar macht.

#35 Urbano Rurale Selvatico. Set di tre quaderni (Quaderno Progetto, Quaderno Ricerca, Quaderno Erbario) 64 pagine ciascuno. Autori vari. Redazione: Matteo Carassale, Maria Teresa D’Agostino, Silvia Fogliato, Mario Mainetti, Marianna Merisi, Cristina Tagliabue. Foto: Matteo Carassale. Zweisprachig italienisch/englisch. Editore: Fondazione Prada, Milano 2023, 45 Euro. Info hier

20 Jahre Masterplan Grüne Strahlen Mailand. Ausstellung in der Wunderkammer von LAND, Via Varese 12. Kuratiert von Andreas Kipar, Enrica Boncaldo und Raikhan Musrepova (Besichtigung auf Anfrage: land@landsrl.com). Vgl. dazu auch die interne Veröffentlichung LANDmagazin Vol.3 (2023/2024) „In-between Landscape“ (hier zur Internetversion).

© LAND

MANIFEST ZUR AUSSTELLUNG RAGGI VERDI (Übersetzung aus dem Italienischen):

»Mailand ist eine Stadt mit vielen grünen Räumen, aber sie weiß das nicht. Sie weiß das nicht, denn im Gegensatz zu öffentlichen Parks sind andere grüne Bereiche kleiner und werden nicht als wertvolles Naturerbe wahrgenommen. Wir müssen uns jedoch des grünen Erbes, das wir haben, bewusst werden,. Die Grünen Strahlen sind ideale wie reale Verbindungen, um die Aufmerksamkeit der Mailänder zu wecken und dieses Erbe aufzuwerten. Die Grünen Strahlen haben zum Ziel, öffentliche Räume untereinander zu verknüpfen, um ein für alle zugängliches grünes System zu errichten. Sie unterstreichen den Wunsch, unsere Stadt wieder zu vernetzen. Sie sind eine stadtpolitische Forderung, damit die Gemeinde mit der Zeit und mit den vorhandenen Ressourcen eine Strategie „grüner Verflechtungen“ umsetzt. Sie bilden einen operativen Entwurf für die Entwicklung neuer Interventionen. Sie formulieren ein Programm zur Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zur Gestaltung einer lebenswerteren Stadt. Sie sind eine breite, eine diffuse Initiative, weil jeder sie in Anspruch nehmen kann, um das eigene Umfeld aufzuwerten. Die Grünen Strahlen bilden sich mit der Zeit. Die öffentlichen Räume müssen wieder in Besitz genommen werden, damit alle die Möglichkeit bekommen, die Stadt zu genießen