DIE DEMOKRATIE UND DIE ZAUBERLEHRLINGE


Peter Kammerer hat für die spannende Buchveröffentlichung „Geheimsache Italien“ von Giuliano Turone eine „Gebrauchsanweisung“ als Einleitung mit Seitenblicken auch nach Deutschland geschrieben. Hier Auszüge

Politik, Geld und Verbrechen: Titelseite des Corriere della Sera einen Tag nach dem 2. August 1980 als, wie heute sicher ist, Rechtsradikale einen Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna verübt hatten mit am Ende 85 Toten und über 200 Verletzten

Mailand – Das Buch „Geheimsache Italien – Politik, Geld, Verbrechen“, das gerade im Verlagshaus Römerweg erschienen ist, behandelt die Vorgänge in Italien zwischen dem Ende der 1970er- und dem Anfang der 1980er-Jahre. Der ehemalige Staatsanwalt und emeritierte Richter des römischen Kassationsgerichtshofes Giuliano Turone geht in einer akribisch recherchierten und zugleich spannend zu lesenden Dokumentation auf Basis von juristischen Quellen den verbrecherischen und antiinstitutionellen Machenschaften nach, die Gesellschaft und Politik erschütterten und die Italien an den Rand einer Staatskrise führten. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine nicht immer leicht zu verfolgende Erzählung zwischen u.a. der Geheimloge P2, organisierter Kriminalität und terroristischen Verbindungen. Die Originalausgabe des Buches erschien 2019 im Mailänder Verlag Chiarelettere. Peter Kammerer bahnt in einer der deutschen Übersetzung vorangestellten „Gebrauchsanweisung“ den Weg durch eine Fülle von Fakten und Beziehungen und schlägt Brücken auch zu deutschen Verhältnissen. Im Folgenden werden weite Abschnitte zitiert (und mit Zwischentiteln versehen).

GEBRAUCHSANWEISUNG

Die deutschen Leser dieses Buches sollten das Vorwort von Corrado Stajano und die Einleitung von Giuliano Turone mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. Es wird ihnen helfen, den Blick auf die Zusammenhänge zu bewahren, ohne sich in der Fülle der Fakten, der Personen und Institutionen zu verlieren. Die beiden Autoren wissen, wovon sie reden. Stajano (* 1930) ist ein engagierter Journalist, der über Jahrzehnte für die bedeutendsten Blätter in Italien geschrieben, an Filmen mitgearbeitet und Bücher verfasst hat, bevor er Mitte der 1990er-Jahre ins Parlament gewählt und Mitglied der Antimafiakommission wurde. Giuliano Turone (* 1940) war über mehrere Jahrzehnte Untersuchungsrichter und Staatsanwalt in Mailand – und in dieser Funktion maßgeblich beteiligt an der Verhaftung und Verurteilung des Chefs der Cosa Nostra, Luciano Liggio. Bei seinen Ermittlungen zum 1979 begangenen Mord an Giorgio Ambrosoli, Konkursverwalter der Banca Privata Italiana, stieß er auf das geheime Netzwerk der Loge P2. Ambrosoli hatte im Dschungel eines Bankenzusammenbruchs seine untadelige Haltung mit dem Leben bezahlt. Stajano schrieb 1991 über ihn ein Buch mit dem Titel Un eroe borghese (Ein bürgerlicher Held). Turone verfasste am Ende seiner Karriere das vorliegende Buch, das in einer Zeit der kleinen und großen Epochenbrüche die Kontinuität des historischen Bewusstseins bewahren soll: die Erinnerung nicht nur an Verbrechen, sondern auch an Vertreter von Institutionen, die mit Entschiedenheit für Transparenz und die Einhaltung demokratischer Regeln eingetreten sind.

Italien und Deutschland

Was bedeutet die Tatsache, dass in Italien seit Kriegsende »ein verborgener Staat im Staat oder vielmehr hinter dem Staat« bestanden hat, »ein weitreichendes Netz von Verbindungen zu den Geheimdiensten, zum CIA und zu neofaschistischen Gruppen« (Friederike Hausmann, ITALIEN, München 2009, S. 174), das durch gezielte terroristische Anschläge einen erheblichen Einfluss auf die Politik und die öffentliche Meinung des Landes ausgeübt hat? Damit ist Italien sicher kein Sonderfall in den westlichen Demokratien. Bekanntlich realisierte der Staatsstreich in Griechenland 1967, was ähnliche Kräfte in Italien planten. Es ist anzunehmen, dass auch in der Bundesrepublik solche Kräfte, mit oder ohne Verbindung zu Italien, am Werk waren. Historische Parallelen zu den geschilderten Ereignissen finden wir in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, als Teile des Staatsapparats rechtsextreme Mörder und Umstürzler deckten. Die politisch-kulturelle Lage der Bundesrepublik hat sich demgegenüber grundlegend verändert. Für Italien verweist Turone auf »drei singuläre historische Faktoren«, die wir uns vergegenwärtigen sollten, um die Ereignisse zu verstehen: die illegale Gegenmacht der historischen Mafias; die mit der modernen Staatsgründung konkurrierende Macht des päpstlichen Kirchenstaates; die Präsenz der stärksten kommunistischen Partei des Westens, die von den USA nicht als demokratische Herausforderung, sondern als militärische Bedrohung empfunden wurde. Trotz dieser spezifisch italienischen Voraussetzungen verspürt der deutsche Leser aber das Bedürfnis, darüber nachzudenken, was die aus ihnen erwachsene Mischung von Staat und Unterwelt mit ähnlichen Phänomenen in Deutschland verbindet. Die vom NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) verübten Morde und kuriose Verschwörungen wie die der Reichsbürger erinnern mit ihren kriminellen und operettenhaften Zügen durchaus an italienische Verhältnisse. Auf jeden Fall betrifft, was in Italien geschieht, immer auch die Bundesrepublik und umgekehrt. (…)

Außergewöhnliche Einblicke

Mit diesem Werk wird ein Staatsanwalt zum Historiker. Er schreibt nicht nur einen Thriller, sondern liefert die Analyse eines Parallelsystems politischer Macht, in dem zusätzlich zu den von Teilen des Staatsapparats gedeckten neofaschistischen Organisationen auch die Mafia, rote Terrorgruppen, gewöhnliche Kriminelle, Hochstapler und Geldwäscher eine einzigartige Besetzung bilden. Was wir wissen, verdanken wir riesigen Strafprozessen, von denen einige nach Jahrzehnten noch nicht abgeschlossen sind, journalistischen Enthüllungen und der Arbeit Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Erst durch die digitale Erfassung ist es möglich geworden, das ungeheure Material, das auf diese Weise zustande kam, zu durchforsten. Turone zitiert die wichtigsten Links. So erhält der Leser einen außergewöhnlichen Einblick in das institutionelle Leben der italienischen Justiz, Polizei und Politik; in ihre Sprache, Methoden und Vorgehensweisen; in ein Labyrinth prozeduraler Erfordernisse, absichtlicher und unabsichtlicher Irreführungen oder Vernichtung von Spuren, objektiv oder subjektiv orientierter Interpretationsschemata. Das macht die Lektüre nicht immer leicht, und die deutschen Leser werden sich über vieles wundern. (…)

Der Fall Andreotti

Die Historiker der italienischen Nachkriegsgeschichte sind sich einig über die Existenz eines von staatlichen Stellen gedeckten, mit Militär, Politik, Geld und Verbrechen verschmolzenen Untergrunds, dessen Geschichte mit Gladio begann, aber 1989 keineswegs endete. Vielleicht ist es müßig, darüber nachzudenken, ob die Geschichte der letzten sechzig Jahre anders verlaufen bzw. anders darzustellen wäre, würde man diese Tatsache gebührend berücksichtigen. Aber was heißt gebührend? Wie brisant diese Frage ist, zeigt das Beispiel von Giulio Andreotti (1919–2013), der von 1945 bis 1999 an insgesamt 33 italienischen Regierungen beteiligt war und damit wohl weltweit den Dauerrekord als Mitglied legaler Regierungen hält. Er gilt als ein Pater Patriae, aber auch als machiavellistische Sphinx. Er hat, oft gleichzeitig, alle Rollen gespielt: Mann des Vatikans, der konservativen Ordnung, der Amerikaner, der Geheimdienste; Gesprächspartner der Israelis, der Palästinenser, der Neofaschisten, der Mafia. Er begegnet uns häufig im vorliegenden Buch. Nicht als Opfer illegaler Gegenmacht (wie Aldo Moro oder Piersanti Mattarella und die zahlreichen ermordeten Hüter des Gesetzes), sondern als souveräner politischer Spieler, Mitwisser, vielleicht sogar Drahtzieher eines doppelten Machtsystems.

Ein neues Narrativ nach alten Mustern

Was ist aus dem Wurzelwerk dieses Untergrunds nach dem gemeinsamen Untergang von Kommunisten (1921–1991) und Christdemokraten (1945–1993) und aller alten Parteien geworden? Wir wissen es nicht. Wir verstehen aber Turones Werk als Aufforderung, daran mitzuwirken, dass die Existenz einer der demokratischen Entwicklung abgewandten Seite der Institutionen keine Geheimsache bleibt. Inzwischen haben unter der Mitwirkung der Regierungen Craxi und Berlusconi jene Kräfte gesiegt, die verhindern wollten, dass linke Parteien, insbesondere die Kommunisten, in einem langen, demokratischen Prozess an die Regierung kommen könnten. Heute hat Italien eine Regierung, die politisch und kulturell Ausdruck der Rechten ist und das Erbe auch der neofaschistisch orientierten Parteien und Organisationen vertritt. Es spricht für sie, dass sie einen Gesetzentwurf zur Bildung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vorgelegt hat, um ein Gesamtbild der »politischen Gewalttaten in den Jahren 1970–1989« zu gewinnen. Aber bereits die Wahl des Zeitraums nährt den Verdacht, Ziel des Ausschusses sei es, nur ein neues Narrativ mit alten, von der Rechten gepflegten Mustern herzustellen. Ausgerechnet das Jahr 1969 mit seinen rechtsextremen Attentaten, die im Bombenanschlag an der Piazza Fontana in Mailand gipfeln, der eine wirkliche Wende in der politischen Geschichte Italiens bedeutet, wird ausgeklammert. Was 1969 geschah, war keine unbedeutende Episode. Es war das Ergebnis einer langen und sorgfältigen Vorbereitung, ein erster Höhepunkt der zu einer völlig neuen terroristischen Qualität politischer Gewaltanwendung führte. Jetzt entstand, aus dem Zusammenwirken antagonistischer rechter und linker bewaffneter Gruppen, der Geheimdienste und der Mafia, die erstickende Decke einer »bleiernen Zeit«. Die Vernachlässigung ihrer Entstehungsgeschichte öffnet die Tür für die längst abgestandene, vereinfachende Narration von sich bekämpfenden politischen Extremisten, denen die Demokratie zum Opfer zu fallen droht. Das wirkliche Bild ist wesentlich komplexer und führt, ausgehend vom Fall Italien, zu der Frage, inwieweit die westlichen, von der NATO geschützten Demokratien, auf Grund ihres genetischen Antikommunismus die Merkmale eines doppelten Machtsystems aufweisen, in dem die Demokratie vor den sie schützenden Zauberlehrlingen geschützt werden muss.

Peter Kammerer, Bologna, Tag der Erinnerung, 27. Januar 2023

Giuliano Turone: Geheimsache Italien. Politik, Geld und Verbrechen. Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschowski. Mit einer Gebrauchsanweisung von Peter Kammerer und einem Vorwort von Corrado Stajano. S. Marix Verlag im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2023. 480 Seiten, 29,90 Euro

PS: Merkwürdig, dass in der deutschen Ausgabe weder der italienische Originaltitel „Italia Occulta“ noch der Verlag Chiarelettere (Mailand) und das Erscheinungsdatum 2019 (eine aktualisierte Fassung 2021) angegeben werden.

Hier zur Person von Peter Kammerer