IDEAL ODER ASOZIAL? 


Antigone als Inbegriff von Widerstand und Bruderliebe oder als Beispiel einer egozentristischen Verweigerin legitimer Rechtsnormen – eine italienische Debatte ausgelöst durch die Streitschrift „Contro Antigone“ von Eva Cantarella

© Straub-Huillet

Antigone – Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (1992) nach der Sophokles-Übersetzung von Hölderlin

Mailand – In ihrem Widerstand gegen die Obrigkeit gilt Antigone als zeitlose Kämpferin für Menschenrechte. Sie tritt, wie wir sie in der Tragödie von Sophokles kennen lernen, bis zur Selbstaufgabe für ihre Überzeugungen ein. Dieses heldenhaft positive Bild zerreißt jetzt die italienische Rechtshistorikerin und Gräzistin Eva Cantarella in ihrem Pamphlet Contro Antigone. O dell’egoismus sociale (Einaudi). Sie beschreibt Antigone als ein „menschliches Monstrum“, als eine Persönlichkeit „mit einem erschreckenden Egozentrismus“. Dass dieser Verriss von der inzwischen 88-jährigen Wissenschaftlerin kommt, die sich Zeit ihres Lebens mit der aktiven Rolle der Frau in der Antike beschäftigt hat und als streitbare Intellektuelle und Demokratin in der Öffentlichkeit aufgetreten ist, hat quer durch die Medien eine Debatte ausgelöst.

Erinnern wir uns: Antigone ist die „treue und geduldige“ Tochter der Ödipus – wie es in Elisabeth Frenzels „Stoffe der Weltliteratur“ heißt. Sie ist Schwester von Ismene und Bruder von Eteokles und Polyneikes, die sich die Regentschaft von Theben im Wechsel teilen wollen. Aber es kommt zum Streit, Polyneikes wird verbannt, er sucht sich Söldner zur Verstärkung und zieht mit ihnen gegen die Stadt. Bei dem ausbrechenden Kampf fallen beide Brüder. Ihr Onkel Kreon, der nach ihrem Tod (wieder) den Thron von Theben besteigt, verbietet bei Todesstrafe die Bestattung des „Verräters“ Polyneikes – wie es das Drama „Antigone“ von Sophokles 441 v. Chr. schildert. Während „die sanfte und kleinherzige Ismene“ sich dem Zwang beugt, geht Antigone „in Erfüllung göttlicher und menschlicher Pflicht“ auf das Schlachtfeld und bedeckt ihren Bruder mit Erde: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“

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Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“ Gemälde von Frederic Leighton 1882

Antigone wird gefasst und zum Tode verurteilt. Lebendig im Grabmal eingemauert, erhängt sie sich, bevor Kreons Sohn Hämon, ihr Verlobter, zur Rettung kommen kann. Kreon, „der mit der Verbohrtheit des Mittelmäßigen auf seiner Strenge beharrt“, wie Frenzel schreibt, lenkt erst ein, als ihm Hämons Tod prophezeit wird. Aber auch er kommt zu spät zum Grab, Hämon will ihn töten, richtet dann jedoch die Waffe gegen sich selbst. Der anschließende Selbstmord seiner Mutter, der Gattin des Herrschers, vervollständigt das Unglück des gebrochenen Kreon.

Das – mit den Kommentaren von Frenzel – ist die gängige Sicht der Tragödie, gegen die Eva Cantarella anschreibt. Antigone, so die Autorin, würde nicht von einem unmenschlichen Gesetz verfolgt, sondern würde das Recht der Polis negieren. Sie stelle sich individuell über die Gesellschaft, wie sie den Tod über das Leben stellen würde: „Als Opfer eines verzweifelten Wahns der Vernichtung und Zerstörung liebt Antigone niemanden, wie sie sich auch selbst nicht liebt: ihre einzige wahre Liebe ist der Tod“. Ihr Opfer sei Kreon, der vielleicht nicht alles richtig mache, aber als Verkörperung des Rechts durch ihre Schuld Frau und Sohn verliere. Und es sei „schrecklich“ wie die Antigone des Sophokles ihre „einsichtige“ Schwester Ismene behandle, die trotz innerer Zerrissenheit nicht gegen die Polis handeln möchte und das Recht der Stadt anerkenne.

Weder Gut noch Böse

Bei einer Diskussion in der sonntäglichen Kulturbeilage „La Lettura“ des Corriere della Sera (4.2.) unterstreicht die Historikerin Laura Pepe, eine Cantarella-Schülerin, die Arroganz der Antigone, die bewusst gegen den Willen der Bürgerschaft der Stadt handelt. Laura Pepe betont aber zugleich, dass diese Antigone die Figur einer Tragödie sei, eines literarischen Genres also, in dem es der Definition nach weder falsch oder richtig,  weder Gut noch Böse gäbe: „Heute verherrlicht ist Antigone Opfer einer dualistischen Sicht. Es ist irreführend, sich für oder gegen sie zu entscheiden.“ Der Schriftsteller Matteo Nucci möchte bei dieser Auseinandersetzung nicht die Sympathie von Eva Cantarella für Kreon teilen, weil auch Kreon „ein Leben vertritt, dass zum Tode führt“. Nuccis Helden sind dagegen Ismene und Hämon. Und der Theatermacher Gabriele Vacis wiederum sieht in Antigone weiterhin eine Heldin, die jungen Frauen von heute als Modell für die Rebellion gegen das Patriarchat dienen könne.

Im Sole 24 Ore (17.3.) verfolgte der Latinist und Schriftsteller Nicola Gardini die Debatte. Die Tragödie sei immer auch ein Stoff von Pluralität und damit der Demokratie. „Die ethische und moralische Lektion kommt nicht aus einem einzelnen Mund, sondern aus der Summe der Differenzen.“ Antigone und Kreon würden auf jeweils ihre Art irren: sie durch ihre sprichwörtliche Verweigerung des öffentlichen Lebens, er durch die dogmatische Anwendung des Gesetzes.

Komplexität und Mythos

Ein Beitrag in der Web-Zeitschrift Doppiozero (18.3.) von Annalisa Ambrosio unterstreicht den Untertitel des kleinen Buches von Eva Cantarella „Gegen Antigone. Oder vom sozialen Egoismus“. In ihrem Pamphlet trenne die Autorin das Bild der heute zum Mythos gewordenen Antigone, von dem der Heroine bei Sophokles und es sei diese Tragödienfigur, gegen die ihre Polemik gerichtet sei. Denn, so schreibt Cantarella, „jeder Diskurs über Antigone, ihren Charakter, ihr Verhalten und ihre Werte wird der Komplexität der Figur, vor die uns Sophokles stellt, nicht gerecht. Und heute wie vor 2500 Jahren, ist sie dazu bestimmt, zu spalten. Die Kraft ihres Mythos, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Konditionierung auf unbewusster Ebene, wirkt sich unweigerlich auf ihr Bild aus und erzeugt Ratlosigkeit bei denen, die sie zu einem Ideal gemacht haben, auf das sie nicht verzichten wollen“. Mit anderen Worten: Die, die Antigone zu ihrem Ideal gemacht haben, haben Sophokles nicht (richtig) gelesen.

Aber, kommentiert die Schriftstellerin Valeria Parrella in „Robinson“, der Literaturbeilage von La Repubblica (28.2.), das Buch von Eva Cantarella sei eine  „brillante, neue Art und Weise, zu Antigone zurückzukehren.“ Mit der Möglichkeit, über die großen Zerrissenheiten, in denen wir und über die wir debattieren, wieder neu ohne von voreingenommenen Positionen aus nachzudenken. Und es sei das große Geschenk dieses Buches, „zu zeigen, dass kritisches Denken, unser einziger Wegweiser im Dschungel der uns umgebenen Unwahrheiten, auf Konfrontation und Begegnung beruht.“

Eva Cantarella: Contro Antigone. O dell’egoismus sociale. Einaudi, Torino. Pagg. 110, 13 Euro