ANSICHTEN EINER STADT


Einleitung zu „Mailand – Eine literarische Einladung“ (*)

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Piazza Duomo. Mailand

 „Mailand, herrlich unter den Städten,
wie die Rose oder die Lilie unter den Blumen,
die Zeder im Libanon,
der Löwe unter den Vierbeinern
und der Adler unter den Vögeln.“

So jubelnd wie Bonvesin de la Riva im Jahr 1288 seine Heimatstadt beschrieb, wird es kaum ein Schriftsteller heute noch tun. Heute geht man eher auf Distanz. Aber der Gelehrte und Frate der aufmüpfigen Bruderschaft der Humiliaten fand Worte, die einen frühen Zusammenhang zwischen Stadtbeschreibung und Literatur belegen. Der Grammaticus Bonvesin de la Riva gilt als Mitbegründer des „Volgare“ einer lombardisch-venetischen Schriftsprache. Zugleich verfasste er den vermutlich ersten „Reiseführer“ Mailands, den aber auf Latein: De magnalibus urbis Mediolani.

Ein Platz in der Literaturgeschichte

Mediolanum, Stadt Mitten im Land gelegen, wenn man den lateinischen Namen denn so deuten will, war oft ein Schnittpunkt von Autoren und Ideen. Das reicht von Ambrosius (aus Trier) über Leonardo (aus Vinci) bis Stendhal (aus Grenoble) und Elio Vittorini (aus Syrakus). Einen festen Platz in der Literaturgeschichte Italiens hat die Stadt seit der Zeit der Aufklärung, als von einem Intellektuellenkreis um Cesare Beccaria, Pietro und Alessandro Verri wie der Zeitschrift „Il Caffè“ frisches Gedankengut das Land aufmischte. Wenig später schuf ein Neffe Beccarias, Alessandro Manzoni, mit seinem Jahrhundertroman Die Brautleute (1827) die Grundlage für die italienische Schriftsprache, indem er das Lombardische mit dem Toskanischen veredelte. Ippolito Nievo reimte begeistert über das Mailand der Romantik: „Un tempio e un uomo: / Manzoni e il Duomo“. Dem Klima der Aufklärung und des Klassizismus kommt man heute zwischen den Nobelgeschäften der Modewelt im Viertel hinter dem Dom etwa in der Via Sant’Andrea (Palazzo Morando) auf die Spur. Das Wohnhaus von Manzoni in der Via Morone ist gerade restauriert worden.

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Wenn der Nebel kommt – Via Benedetto Marcello

Ende des 19. Jahrhunderts folgten die frechen Autoren der Scapigliatura – wörtlich meint der Begriff: „zerzauste Haare“ – mit Carlo Dossi oder dem jungen Giovanni Verga. Von Mailand aus erfasste dann der Futurismus (Filippo Tommaso Marinetti) halb Europa. Und nach dem ersten Weltkrieg gründete ein Kreis um Riccardo Bacchelli in einer Trattoria der Via Bagutta 1926 den „Premio Bagutta“, einem heute zugegeben etwas angestaubten Literaturpreis, der aber besonders in den ersten Jahren seines Bestehens das junge Italien entdeckte und etwa 1934 einen 40jährigen Carlo Emilio Gadda auszeichnete. Unter dem Eindruck des erneuten Weltkriegs zeigten sich neorealistische Strömungen, die etwa im Widerstandsroman Dennoch Menschen von Elio Vittorini ihren Ausdruck fanden.

Eine ganz alte Geschichte

Der kurze Überblick vermittelt – mit unverantwortlichen Saltosprüngen durch die Vergangenheit – vielleicht eine Ahnung von dem gleichsam historischen Humus, auf dem die Mailänder Literatur der Gegenwart aufbaut. Die altehrwürdigen Bibliotheken sind Ausdruck dieser Geschichte. Allen voran die seit 1609 fürs (wissenschaftliche) Publikum geöffnete Biblioteca Ambrosiana, aber auch die prächtige, von Kaiserin Maria Theresa 1770 gegründete Biblioteca Braidense im Palazzo Brera. Und wenn man Glück hat, kann man die heute allerdings nackten Räume der Bibliothek der Augustiner bei S. Maria Incoronata (Corso Garibaldi) aus dem 15. Jahrhundert besichtigen.

Mit dieser Geschichte im Rücken und der Entwicklung zu einer modernen Metropole unter den Füßen ist es eigentlich kein Wunder, dass von den bisher sechs italienischen Nobelpreisträgern für Literatur die jüngsten drei an Autoren fielen, die hier gelebt und gearbeitet haben: Salvatore Quasimodo (1959), Eugenio Montale (1975) und Dario Fo (1997).

In Mailand kommt man schnell zur Sache

Es gibt dabei keine „Mailänder Literatur“, wie man in Italien Regionalliteraturen kennt, die mit ihren Themen tief in den lokalen Gefühlslagen und den Landschaftsbildern wurzeln – etwa auf Sardinien, auf Sizilien, in und um Neapel oder auch im Piemont. Die Mailand betreffenden Erzählungen, Romane oder auch Gedichte der Zeit nach 1943/45 begleiten, kommentieren und kritisieren oft die gesellschaftliche, politische und urbane Entwicklung der Stadt. An diesen Texten kann ablesen, wie Mailand sich verändert und sich mit diesen Veränderungen auch schwer tut. Es sind, wenn man so will, Paralleltexte.

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Scala, Publikum während der Pause

Diese kleine Salto-Band bei Wagenbach versucht, als literarische Einladung einen Weg durch die Irrungen und Wirrungen der jüngsten sechs, sieben Jahrzehnte zu schlagen. In einem Auftakt werden verschiedene Sehweisen auf die Stadt geboten, wo man auch Sätze lesen kann, die man nicht unbedingt erwartet hätte: „Mailand ist die ideale Stadt, um Spazieren zu gehen.“ (Maurizio Cucchi). Was sofort konterkariert wird von: „Bei McDonald’s isst man auf Mailändische Art, nicht was die Küche angeht, sondern was die Art betrifft, wie man das Essen zu sich zu nimmt. Im Laufschritt.“ (Aldo Nove). Das ist sozusagen das Kompositionsprinzip. Man spürt, hier geht es nicht um bedeutungsschwangeres literarisches Geraune. In Mailand kommt man schnell zu Sache und die meisten Autorinnen und Autoren halten sich daran. Dass man übrigens auch anderes als Fastfood kennt, beweist Carlo Emilio Gadda durch sein „Urväterrisotto“.

Eine Stadt der Poeten

Es folgen Kapitel, die nicht immer leichte Verhältnisse widerspiegeln: die Kriegszerstörungen, der Wiederaufbau und der kulturelle Aufbruch (Kapitel II); die Emigration aus dem Süden, die Jahre des Booms und des Terrorismus (Kapitel III); die Zeit des Hedonismus, das neue Bürgertum und das Abkoppeln der Vorstädte (Kapitel IV); die Widersprüche der Gegenwart und die multiethnische Stadt (Kapitel V). Jeder Abschnitt wird von einem lyrischen Text eingeleitet, denn Mailand ist – für viele vielleicht überraschend – auch eine Stadt der Poeten, die wie Milo De Angelis oder Anna Maria Carpi in diesen Jahren im deutschen Sprachraum entdeckt werden. Nicht alle haben diesen Ort geliebt, eine Lyrikerin wie Alda Merini ist schließlich an ihm verzweifelt. Zu denen volkstümlichen Poeten gehören auch Liedermacher, zum Beispiel Enzo Jannacci oder Giorgio Gaber, für die hier Adriano Celentanos Song „Ragazzo della Via Gluck“ steht.

Ein kleines Alda-Merini-Museum liegt übrigens im Naviglio-Viertel, wo Mailands südliche Kanäle, der Naviglio Grande und der Naviglio Pavese zusammenlaufen. Das ist ein von Touristen wie von Einheimischen gern besuchtes Szeneviertel, in dem ein Andrea De Carlo zu Hause ist. Wie überhaupt man mit diesen Texten durch Mailand streifen kann, um zum Beispiel mit Luca Donelli den Blick auf den Dom zu richten, mit Anna Maria Ortese in den Corso Buenos Aires – heute die größte Einkaufsstraße der Stadt – umzuziehen, mit Dino Buzzati die Scala zu besuchen oder mit Giorgio Fontana in der Via Padova den Reiz der Fremde zu entdecken. Den Randvierteln, wo Mailand aufhört, aber die Stadt nicht enden will, widmen sich besonders die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart. Ein internationales Gemisch: Helena Janeczek etwa mit polnischer Herkunft, deutscher Erziehung aber längst italienischer Identität. Oder die Mailänderin Gabriella Kuruvilla mit indischem Vater und italienischer Mutter.

Verlage und Buchläden wie nirgendwo

Zur literarischen Szene rund um den Dom gehören die vielen Verlage. Mondadori und Rizzoli frisch vermählt als bedrohliche Übermacht, fein aber klein Marcos y Marcos, umtriebig anregend Feltrinelli, elegant Adelphi, solidarisch verbunden die Gruppe GeMS, kunstvoll Skira, sympathisch traditionell Hoepli und, und, und. Und dann die Buchläden: Bereits in der Galleria zwischen Duomo und Scala findet man etwa Feltrinelli, Rizzoli und die Kunstbuchhandlung Bocca, uralt, seit 1775, und auf engstem Raum immer noch voller Leben. Feltrinelli beherrscht mit seinen modernen Kettenläden und Serviceangeboten wie Cafés die Stadtszene. Argwöhnisch beäugt von den kleinen Unabhängigen, die um Raum und Aufmerksamkeit fürchten. Kein Ort Italiens kennt eine solche Dichte von Buchhandlungen wie Mailand. Buchhandlungen, die zu suchen lohnt: die der Anarchisten (Libreria Utopia, Via Marsala), die der Frauen (Libreria delle Donne, Via Pietro Calvi), die der Querdenker (Libreria del Mondo Offeso, Via Cesarino), die der Psychologen (Libreria Adelphi, Piazza Lima), die der Kinder (Libreria dei Ragazzi, Via Todino) oder die der hundert Blumen (Libreria Centofiori, Piazzale Dateo). Besucher können in vielen Läden, Zirkeln oder den Einrichtungen der neun Universitäten der Stadt mit Lesungen und Literaturveranstaltungen rechnen.

Das ist kein heimliches Italien

Und wo bleibt das Theater, gehört das etwa nicht zur Literatur? Giorgio Strehler und das Piccolo? Die jungen Dramaturgen wie Stefano Massini? Dario Fo bietet doch mit seinem linken Volkstheater nur eine von unterschiedlichen Bühnenerfahrungen der so reichen Mailänder Szene. Die Wunschliste für eine literarische Einladung wird lang und länger. Testori? Montale? Lalla Romano, die in der Via Brera lebte? Giorgio Scerbanenco, der den italienischen Krimi begründete? Ganz zu schweigen von der Gegenwart. Gleichsam im Monatstakt erscheinen literarische Text, die in und um Mailand angesiedelt sind.

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Bahnhofsvorplatz, Pirelli-Hochhaus

Noch nie in der Geschichte wurde die lombardische Metropole so breit als Folie für Romane und Erzählungen benutzt wie heute. Das liegt vielleicht daran, dass man hier einen der ganz wenigen Orte Italiens findet, in der die unterschiedlichsten Spielarten der Moderne miteinander wetteifern können, ohne dass sie von lokalen Zwängen erstickt werden. Von der Börse zu neuen Museen, von Wolkenkratzern zur Freiwilligenbewegung, vom Luxuskonsum zur Smart City, von den Werbeagenturen oder dem Designstudios zum Literaturcafé. Und das ganze eben auf der Grundlage von Leonardo, Beccaria, Manzoni. Und einer aktuellen Geschichte, die es auch mit ihren Bedrohungen (Korruption, organisiertes Verbrechen) in sich hat, wie zum Beispiel Giulio Cavalli erzählt. Sicher, das ist kein heimliches Italien, für Anhänger der Toskana-Fraktion eher ein unheimliches. Doch es fasziniert Menschen, die sich schreibend der Wirklichkeit nähern.

Aber endlos Namen an Namen, Titel an Titel, Ausschnitt an Ausschnitt zu reihen, würde nur ermüden. Jeder vermisst einen, seinen Autor. Jeder mag sich gleichsam seine eigene Anthologie zusammen stellen, das heißt individuelle Wege durch eine der zur Zeit vielleicht spannendsten Literaturszene Italiens schlagen. Wenn diese literarischen Einladung neugierig auf mehr macht, hat sie viel erreicht. Wenn sie ein paar unterhaltsame wie nachdenkliche Lesemoment bescheren kann, wollen sich Verlag und Herausgeber glücklich schätzen. Wer sie dagegen gelangweilt weglegt, hat sicher seine Gründe.

In diesem Sinne: Buona lettura!Copia di Salto Mailand

 

(*) Einleitung (leicht erweitert) aus dem Band: Mailand. Eine literarische Einladung. Herausgegeben von Henning Klüver. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 144 Seiten, 17 Euro