AUF LEBLOSER FOLIE


Enttäuschend: der Ehe-Roman „Treue“ von Marco Missiroli an der Grenze zum Kitsch, die er manchmal überschreitet

© Cluverius

Mailänder Schmerzenbild – Graffito im Naviglio-Viertel

Mailand – Margherita und Carlo leben in Mailand. Sie sah sich als Architektin und leitet jetzt als Immobilienmaklerin eine kleine Agentur. Er hält sich für einen Schriftsteller, muss jedoch sein Geld als Dozent für kreatives Schreiben verdienen. Auch wenn beide Mittdreißiger ihre beruflichen Träume nicht erfüllt sehen, führen sie eigentlich eine gelungene Ehe, fühlen sich jeweils vom anderen auch erotisch angezogen. Wenn nur dieser Verdacht nicht wäre: gab es bei ihm einen Seitensprung mit einer Studentin? Und was spürt sie, wenn sie bei einer Therapiesitzung von dem jungen Physiotherapeuten berührt wird? Es geht in dem Roman von Marco Missiroli, wie es der Titel auf den Punkt bringt, um Treue, um Emotionen, um Sehnsüchte. Kein leichtes Gelände, das bereits von unzähligen Unterhaltungsromanen bearbeitet worden ist. Und, um es gleich zu sagen, der Autor verliert sich auf ihm.

Sicher, Missiroli, weiß schwungvoll zu schreiben. Er beruft sich im Text auf literarische Vorbilder von Philip Roth bis Dino Buzzati, aber kann ihnen nicht gerecht werden. Er baut mit dem Gebrauch von SMS bis zum Konsum von TV-Serien („Games of Thrones“) viel Gegenwart ein und lässt gesellschaftliche Probleme (Prekariat, Wohnungsfragen, Genderprobleme) anklingen, doch bleiben sie ohne Funktion. Als Erzähler in der dritten Person versucht er Distanz zu seinen Protagonisten aufzubauen. Allerdings bleiben diese und die Menschen ihre Umgebung merkwürdig oberflächlich, rollenhaft, banal – mit Ausnahme vielleicht von der Mutter Margheritas. Das Netz der Beziehungen gleitet in teilweise kitschige Handlungsstränge ab, die mit erotischen Szenen gespickt sind – Stoff für eine Unterhaltungsserie im Privatfernsehen. Die Montagemethode, Szenen nahtlos aneinander zu schneiden, liefert bereits das formale Gerüst – demnächst wohl mehr bei Netflix.

Von NoLo bis zu den Navigli

Dazu wurde eine Chance verspielt. Die Geschichte von Margherita und Carlo spielt in zwei zeitlichen Phasen in Mailand: vor der Weltausstellung 2015 und wird nach einer längeren Pause danach wieder aufgenommen. Eine Zeit, in der Mailand urban und kulturell aufblühte und eine Lebensqualität wie kaum eine andere europäische Großstadt entwickelte und zugleich Widersprüche deutlich werden ließ. Marco Missiroli schickt seine Personen kreuz und quer durch die Stadt vom Zentrum bis in die Peripherie. (Neu-)Modische Viertel wie Porta Venezia und NoLo, Navigli und Isola tauchen auf. Er nennt Straßennahmen, beschreibt Wege und Plätze, aber weiß die Atmosphäre, die Stimmung, das gesellschaftliche Leben nicht einzufangen. Mailand bleibt eine leblose Folie. Der Gegenschnitt zur Metropole, Rimini mit Altstadt und Hafen, Meer und Nebel, geriert zur romantischen Schablone.

Romane wie Ikea-Möbel

Marco Missiroli, 1981 in Rimini geboren und aufgewachsen, in Bologna studiert, lebt und arbeitet als Journalist (Corriere della Sera) und Schriftsteller in Mailand. Sein Roman Atto osceni in luoghi privati wurde 2015 einen Bestseller, die deutsche Übersetzung „Obszönes Verhalten an privaten Orten“ (Tropen Verlag, Stuttgart) blieb aber unbeachtet. Fedeltà (Einaudi, 2019), wieder ein Bestseller in Italien, spaltete die heimische Kritik. Auf der einen Seite las man wohlwollende Besprechungen in der Stampa und im Corriere della Sera („Ein klassischer und zugleich seltener Roman“). Nach Roberto Saviano legt er kompromisslos „die Empfindungen unserer Zeit offen“. Verrisse dagegen gab es u.a. in der Repubblica („verliert die Seele im Glamour“) oder im Messaggero („einer der viele italienischen Romane dieser Jahre wie Ikea-Möbel: die selben Stücke, Schrauben, Handlungen, Handys, Berufe und Qualen und sogar Ficks.“). Dem Verkauf haben sie nicht geschadet. Der Premio Strega, auf dessen Short-List Fedeltà stand, ging dagegen 2019 an Antonio Scurati und seinen Mussolini-Roman „M. Il figlio del secolo“.

Marco Missiroli: Treue. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 256 Seiten, 23 Euro