BÜHNENTIERE UND HANDWERKER


Das Theater in Italien zwischen dem „Modell Mailand“, einer lebhaften Provinz und drohender Amateurisierung – ein aktueller Überblick

copyright Luca del Pia/Teatro Elfo

Hinter Glas – Elio De Capitani als Othello am Mailänder Teatro Elfo Puccini

Mailand – Sexy soll das Theater sein, mutig in den Inhalten, spielerisch in den Formen und offen im Umgang mit dem Publikum. Wer wollte Marco Paolini, einem wichtigen Vertreter des teatro narrativo, des Erzähltheaters widersprechen? Der Dramaturg und Schauspieler nahm kürzlich an einem Forum des Corriere della Sera teil, auf dem über den Zustand des italienischen Theaters debattiert wurde. Da konnte man Klagen über Klagen hören: Die Spielpläne würden sich Jahr für Jahr gleichen, Klassiker nicht auf neue Art befragt, Gegenwartsstücke ohne Widerhaken geboten. Man verschließe sich neuen Dramaturgien und Ausdrucksformen. Und Masse ginge vor Klasse.

Und wirklich. Noch nie wurde in Italien so viel Theater geboten wie heute. Die Umsätze an den Kassen steigen. Private Schauspielschulen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die meisten Abgänger finden allerdings kaum Engagements an den traditionellen Bühnen und gründen deshalb ihr eigenes Minitheater – oder machen wieder eine Schauspielschule auf. Avanti Dilettanti. Antonio Latella, international erfahrener Regisseur und zurzeit Direktor der Theater-Biennale von Venedig, beklagt sich, das Theater sei „ein Handwerk, kein Hobby“. In Italien hätten die meisten Bühnen nicht gelernt, „Unternehmen zu werden, die Kultur produzieren.“

Traditionell bestimmte (und bestimmt teilweise noch) das Tourneetheater die Szene. Für die Produktion eines Stückes wurde eine Kompanie meist um einen Starschauspieler gebildet, zog durchs Land und löste sich anschließend wieder auf. Parallel dazu konnten sich früher in Bühnenhochburgen wie etwa Neapel mit Dramaturgen wie Eduardo De Filippo bedeutende lokal geprägte Theaterszenen entwickeln.

copyright Cluverius

Wo das Piccolo gegründet wurde – heute als „Teatro Grassi“ die zweite Bühne

Feste Bühneneinrichtungen mit Produktionen im eigenen Haus entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das erste Teatro stabile gründeten Giorgio Strehler und Paolo Grassi 1947 in Mailand in einem ehemaligen Kinosaal: das von der Stadt finanzierte Piccolo Teatro. Heute gibt es in allen großen Städten von Turin bis Catania solche halböffentlichen wie privaten Teatri stabili allerdings in der Regel ohne feste Ensembles. Sie sind auf Koproduktionen oder auf das Tourneetheater angewiesen, um ihre Spielpläne zu füllen. So wie eine Bühnenfassung von Victor Hugos „Les Misèrables“ (Die Elenden), die jetzt kürzlich am Teatro Mercadante von Neapel debütiert (Regie Franco Però), aber gemeinsam von Theatern in Triest, Brescia und Mailand produziert wird.

Kritik an der Förderung durch das Ministerium

Die Häuser werden nach dem Verteilungsschlüssel eines neuen Theatergesetzes vom Kulturministerium finanziert, der von vielen Seiten als bürokratisch mit allein quantitativen Kriterien kritisiert wird. Bühnen werden so nach Umfang ihrer Produktionen eines Dreijahresplans in mehrere Klassen eingeteilt. Die meisten Zuschüsse erhalten zurzeit sieben Bühnen mit dem Premiumtitel „Nationaltheater“. Dazu gehören etwa das Mailänder Piccolo, das Argentina in Rom oder das Stabile Turin. Es folgen rund 20 Einrichtungen der Klasse „kulturell relevant“ zwischen Bozen, Parma und Bari. Minibeiträge erhalten außerdem Produktionszentren und regionale Zusammenschlüsse. Gefördert werden schließlich Festivals. Gerade gab es Aufregung in Venedig und Genua. Während das Teatro Goldoni der Lagunenstadt nach dem Punktesystem des Ministeriums für die Zeit 2018/2020 von der Premiumgruppe ausgeschlossen wurde – und protestierte, weil es entsprechend weniger Zuschüsse erhalten wird – , konnte das Teatro Stabile Genua in die erste Liga aufsteigen.

copyright Teatro sotto il Lucernario

Theater im Keller – Teatro sotto il Lucernario in der Mailänder Vorstadt

Insgesamt wird die Szene der Sprechtheater pro Jahr vom Ministerium mit rund 72 Millionen Euro gefördert. Die Musiktheater erhalten dagegen fast drei Mal so viel. Pirandello hin, Pasolini her – aus der Sicht der staatlichen Unterstützung bleibt Italien ein Land der Oper. Da hilft auch kein Nobelpreis an einen Theatermacher wie Dario Fo (1997). Viele Bühnen können deshalb nur mit Hilfe kommunaler Zuschüsse mehr schlecht als recht überleben. Einige rutschen in den Amateurbereich ab.

Ein Requiem für das italienische Theater?

Aber läuft wirklich alles so schlecht, dass der römische Kritiker Franco Cordelli auf dem Forum des Corriere della Sera von einem „Requiem für das italienische Theater“ sprechen konnte? Eine Stadt wie Mailand mit wichtigen Bühnen wie dem Piccolo Teatro, dem Teatro Elfo-Puccini und dem Teatro Franco Parenti, die jede für sich drei Theatersäle pro Abend bespielen, zeigt ein anderes Bild. Dazu kommen weitere Spielstätten und kleine Theaterwerkstätten besonders in der Vorstadt. In Mailand sind die größten Theaterverlage zuhause, hier erscheinen Zeitschriften, die wie Hystrio auch wichtige Preise vergeben. Die kommunale Theaterschule Scuola Paolo Grassi gehört zu den renommierten Ausbildungsstätten des Landes.

Elio De Capitani, Mitbegründer des Elfo-Puccini, spricht von einer „lebhaften Szene“, in der eine „Theatergemeinschaft“ sich um Bühnen und Stücke gebildet habe, und sich je nach Inszenierung immer wieder neu zusammensetze. De Capitani hat gerade zusammen mit Ferdinando Bruni am Elfo ein breit angelegtes Afghanistan-Projekt als Übersetzung der amerikanischen Vorlage „The Great Game“ in Angriff genommen.

Generationswechsel am Piccolo

Das Piccolo – mit einer eigenen Schauspielschule – hat 25.000 Abonnenten und kann auf eine Auslastung von 80 Prozent seiner Vorstellungen verweisen, wobei knapp die Hälfte des Publikums aus Besuchern der Altersgruppe unter 30 Jahren besteht. Der Dramaturg Stefano Massini („Lehmann Trilogy“, „Freud o l’interpretazione dei sogni“) ist inzwischen als künstlerischer Berater des Piccolo in die Fußstapfen von Luca Ronconi getreten und hat damit einen Generationswechsel eingeleitet.

copyright Masiar Pasquali/Piccolo Teatro Milano/Masiar Pasquali

Zwischen Freier Szene und etabliertem Theater: Emma Dantes Inszenierung „Bestie di scena“ im Piccolo

Die Jubiläumsspielzeit 70 Jahre nach der Gründung des Theaters trägt auch seine Handschrift. Darin finden sich neben Massinis „Freud“ (Regie Federico Tiezzi) unter anderem das Antimafia-Stück „Fine pena: ora“ (Ende der Strafe: jetzt) von Paolo Giordano oder eine Wiederaufnahme von Emma Dantes „Bestie di scena“ (Bühnentiere). Dazu Gastspiele wie „Der Kirschgarten“ in der Inszenierung von Lev Dodin (Maly Drama Teatr St. Petersburg) oder Rimini Protokoll (Stefan Kaegi, Domenic Huber) mit „Nachlass“. Zu den Kontrapunkten zählt etwa Goldonis selten gespieltes Stück „Il teatro comico“ (Das komische Theater), das Ende Februar in der Regie von Roberto Latini Premiere hatte.

Ein Theater der Kunst für alle, forderte Giorgio Strehler bei der Gründung des Piccolo. „Alle“ – damals waren das die Bevölkerungsschichten, die Faschismus und Krieg hinter sich gelassen hatten. Heute müsse sich die Forderung nach dem „Alle“ mit einem in viele Interessen fragmentierten Publikum auseinandersetzen, so Piccolo-Intendant Sergio Escobar.

Die Vielfalt der sogenannten Provinz

Der avantgardistische Teil dieses Publikums wird vor allem in der Provinz bedient, wo das teatro di ricerca, das experimentelle Theater, zuhause ist. Die Gruppe Anagoor (Castelfranco Veneto) eröffnet mit einer Bearbeitung der Orestie von Aischylos in diesem Jahr die Theater-Biennale (20.7. bis 5.8.), auf der Anagoor mit einem silbernen Löwen ausgezeichnet werden wird. Politisches Theater bietet das Teatro delle Albe (Ravenna) etwa mit dem Antikorruptionsstück „Va pensiero“, das vor kurzem in Mailand (Elfo) gastierte. Aus Ravenna kommt auch die Gruppe Fanny & Alexander, aus Rimini Motus, aus Albenga Kronoteatro. In Cesena haben Romeo und Claudia Castellucci die Societas Raffaello Sanzio gegründet – gerade triumphierte ihr „Democracy in America“.

copyright Sardegna Teatro

Kopf an Kopf – „Macbettu“ in sardischer Sprache

Das Theater denken radikal Emma Dante in Palermo oder Enzo Vetrano und Stefano Randisi, die ebenfalls aus Palermo stammen, aber in Bologna eine eigene Kompanie gegründet haben. Neue sprachliche Wege geht ein Mimmo Borelli mit seinem avantgardistischen Dialekttheater in Neapel – unter anderem mit dem Stück „Sanghenapule“ zusammen mit Roberto Saviano oder kürzlich mit „La Cupa“. In Cagliari und Nuoro kam ein „Macbettu“ in sardischer Sprache auf die Bühne.

Mehr Mut auf den italienischen Bühnen

Und schließlich sind die vielen Festivals aus der italienischen Szene nicht wegzudenken, die wiederum in ländlichem Ambiente die extrem lange Sommerpause (Juni bis Oktober) der Stadttheater kontrastieren. Das reicht vom traditionellen Festival dei Due Mondi di Spoleto (Umbrien) zu Primavera dei Teatri in Castrovillari (Kalabrien), vom Festival delle Colline Torinesi (Piemont) zu Santarcangelo dei Teatri (Emilia-Romagna). Ein nationales Festival, wie das vor zehn Jahren gegründete Napoli Teatro Festival Italia – in diesem Jahr 8. Juni bis 10. Juli – , konnte sich nach guten Ansätzen nicht recht durchsetzen und hat heute trotz interessanter Aufführungen nur noch regionale Bedeutung.

Gewiss, es fehlt an Kritik in den Medien, an theoretischen Debatten und einem nationalen Theatertreffen. Die Veranstaltungen der Biennale bleiben isoliert und das Modell Mailand hat im Land noch keine Ableger geriert. Man würde sich mehr Mut wünschen. Aber, so der Essayist und Storyteller Luca Scarlini aus Florenz, das Theater in Italien wirke vielleicht nicht sexy, aber es sei so vielfältig wie die Szene komplex sei.

Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. Juni erschienen.

Siehe auch auf Cluverius „Im Theater: Freud o l’interpretazione dei sogni“  

copyright Masiar Pasquali/Piccolo

Fabrizio Gifuni in „Freud o l’interpretazione dei sogni“ im Piccolo