BUNT WIE ARLECCHINO


Italien: Aus der Vielfalt der Zentren für Gegenwartskunst ragen Turin und besonders Mailand heraus – und Venedig als internationale Bühne

© Cluverius

Wo sich die Gegenwartskunst der ganze Welt trifft: Die Kunstbiennale 2022 „The Millk of Dreams“ wird am 23. April eröffnet – hier ein Eindruck der Giardini und dem Hauptgebäude von der Architekturbiennale 2021

Mailand – Die Gegenwartskunst in Italien stagniert. Das hat sicher auch damit zu tun, dass das ganze Land einen müden Eindruck macht. Es steht von einigen Bereichen (Mode, Design, Food) ausgenommen nicht im internationalen Interesse, bietet auch keine beispielhaften sozio-politischen Entwicklungen (oder sie verpuffen wie die Fünfsternebewegung in wenigen Monaten) und wird kulturell im Ausland kaum noch wahrgenommen. Immer weniger Künstlerinnen und Künstler aus Italien sind auf internationalen Ausstellungen und Messen präsent, beklagte kürzlich ein Forum zur Gegenwartskunst am Museum Pecci in Prato. Dabei gibt es im Land mehrere Zentren, die zumindest historisch eine Rolle gespielt haben oder sich gerade neu aufstellen und vielleicht Ansätze bieten, der Szene neue Anstöße zu geben.

Allen voran Turin. Im November gab es nach einer Zwangspause (Covid) endlich wieder eine Artissima als Präsenzveranstaltung. Das ist die einzige wichtige Messe Italiens ausschließlich zur Gegenwartskunst, die sich zudem immer internationaler gibt (155 Galerien aus 35 Ländern). Zuletzt wurde sie von der Kuratorin und Kritikerin Ilaria Bonacossa, geleitet. Frauen spielen in Turin die Hauptrolle: sie führen das Museo in Rivoli, das mit dem Museo Pecci in Prato bedeutendste Museum für Gegenwartskunst in Italien (Carolyn Christov-Bakargiev), die Fondazione Mario Merz (Beatrice Merz) oder die Sammlung Sandretto Re Rebaudengo (Patrizia Sandretto).

Das lebendige Mailand

Mailand fehlt ein Museum für Gegenwartskunst, das Museo del Novecento zeigt vornehmlich Arbeiten des gesamten 20. Jahrhunderts mit einem außerordentlichen Schwerpunkt zum Futurismus. Auch kann die Messe MiArt (ebenso mit Arbeiten von 1900 bis heute) noch nicht mit der Artissima konkurrieren, hat immerhin in Sachen Gegenwartskunst inzwischen etwas aufgeholt. Aber Mailand konnte sich in den vergangenen zwanzig Jahren zum lebendigsten Kulturzentrum Italiens u.a. mit den beneidenswert finanzkräftigen Privatstiftungen Prada, Trussardi und dem Hangar Bicocca (Pirelli) entwickeln. Und mit einer Galerie-Szene, die ständig wächst und im Land kein Gleichen findet: von Raffaella Cortese zu Kaufmann Repetto, der Lisson Gallery zu Giò Marconi – und natürlich Massimo De Carlo, über den das Giornale dell’Arte schreibt: „wenn es in Italien einen Monarchen der Gegenwartskunst gibt, dann ist er das.“ Andere, wie Lia Rumma aus Neapel, haben hier Zweitsitze aufgemacht. Dazu kommen Sammlungen der Bankstiftungen, Ausstellungszentren wie der Pavillon für Gegenwartskunst (PAC) oder die Triennale, die laufend die Grenze zwischen Design und Kunst auslotet. Sowie eine Kommunalverwaltung, die für die kommenden Jahre Gegenwartskunst in den Mittelpunkt ihrer Kulturpolitik stellen will.

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Anselm Kiefers „Himmelspaläste“ socie großflächige Malarbeiten im Mailänder Hangar Bicocca

Diese Mischung zusammen mit einer atemberaubenden urban-architektonischen Entwicklung machen „Mailand zum einzigen Zentrum Italiens, das wirklich international aufgestellt ist und im Konzert der europäischen Zentren wie London, Paris oder Berlin mitspielen kann“, so Ilaria Bonacossa im Gespräch. Die Kritikerin, auch Mitarbeiterin des Whitney Museum New York, wechselt jetzt von Turin nach Mailand, wo sie im Auftrag des Kulturministers ein nationales Museum für digitale Kunst (MAD) aufbauen soll. Die Eröffnung ist für 2026 geplant.

Rom und der Süden

Andere Städte tun sich da schwerer. Sicher versucht Rom, sich etwa mit der Quadriennale in der Ausstellungsszene zu behaupten. Auch spielen Museen wie das MACRO und besonders das MAXXI, das Museum für die Kunst des 21. Jahrhunderts im verspielten Neubau von Zaha Hadid, eine Rolle. Oder die GNAM, das nationale Museum für moderne Kunst, unter der Leitung von Cristiana Collu. Dazu kommen Galerien wie die italienischen Dependance von Gagosian. Man darf gespannt sein, wie Kathryn Weir in Neapel das MADRE, das wichtigste Museum für Gegenwartskunst Süditaliens, weiterentwickelt, das sie unter Pandemiebedingungen zu Beginn 2020 übernommen hat. In Neapel leuchtet vor allem die Galerie von Lia Rumma als heller Stern der gesamten italienischen Szene, Besuche lohnen immer wieder das Studio Trisorio oder Alfonso Artiaco. In Süditalien machen dann viele kleine Einrichtungen wie die Fondazione Pino Pascali in Polignano (Apulien), das MACTE in Termoli (Molise) oder das MAN in Nuoro (Sardinien) neugierig. Ähnliches könnte man aus Palermo, Matera oder Cagliari berichten. Eine Landkarte vom Italien der Gegenwartskunst ist bunt wie das Kostüm eines Harlekins – oder wie eine Flickenarbeit von Alighiero Boetti.

Venedig – ein anderer Kontinent

Und dann gibt es ja noch Venedig. Aber Venedig ist gleichsam extranational. Ein prächtige Bühne für die ganze Welt mit der Biennale, den Länderpavillons und den vielen Nebenveranstaltungen. Den internationalen Akteuren der Stadt im Palazzo Grassi/Punta della Dogana (François Pinault) oder in der Peggy Guggenheim Collection. Auch Italien hält hier u.a. mit Prada im Palazzo Ca’ Corner della Regina gleichsam „Dependancen“. Was die Gegenwartskunst angeht, ist Venedig ein anderen Kontinent. Einer, der keine Müdigkeit kennt. Am 23. April öffnet die auf dieses Jahr verschobene Kunstbiennale „The Milk of Dreams“ ihre Tore (bis 27.11.). In der von Cecilia Alemani kuratierten Hauptausstellung sind 213 Künstlerinnen und Künstler aus 58 Ländern mit insgesamt 1433 Arbeiten zu sehen. Dazu kommen die Pavillons von diesmal 80 Nationen.