DAS GEHEIMNIS DER BUCHSTABEN


Maddalena Fingerle ist mit dem Roman „Muttersprache“ ein bemerkenswerter Erstling gelungen, den Maria Elisabeth Brunner ebenso bemerkenswert übersetzt hat (Folio Verlag)

© Cluverius

Saubere Wörter: „Eine schöne Sache aber gibt es in Bozen, und das ist das Wasser des Flusses…“

Mailand – Der junge Italiener Paolo Prescher wächst in Bozen unter nicht ganz leichten Umständen auf. Sein Vater ist verstummt, seine größere Schwester bösartig und verlogen, seine Mutter vor allem mit sich selbst beschäftigt und Jan, sein bester Schulfreund, macht sich noch in die Hose. Kein Wunder, dass auch der junge Paolo Nerven zeigt: übersensibel an der Grenze zum Wahn leidet er darunter, dass ihm die Wörter „dreckig“ gemacht werden. Er merkt, „dass die Sprache, die ich spreche, schmierig ist und ich es nicht mehr schaffe, mich auszudrücken.“ Das ist die Ausgangssituation des Romans „Muttersprache“ von Maddalena Fingerle, der in der ­– um es gleich zu sagen – tollen Übersetzung von Maria Elisabeth Brunner bei Folio (Bozen/Wien) vorliegt.

Maddalena Fingerle – der Name ist deutsch, die Muttersprache italienisch – wurde 1993 in Bozen geboren. Sie zieht in ihrem preisgekrönten Erstlingsroman „Lingua Madre“, der im vergangenen Jahr im Verlag Italo Svevo Edizioni (Triest) erschienen ist, den Leser von Anfang an durch einen schier ungebremsten Sprachfluss mit viel Humor in den Bann. Und angesichts der Sonderlichkeiten in dem Umfeld des Ich-Erzählers Paolo weiß man zunächst nicht, ob man lachen oder alle gleich zum Psychotherapeuten schicken soll. Bald wächst einem der Sonderling Paolo ans Herz. „Wörter sind im Prinzip sauber, wenn sie das sagen sollen, ohne zweideutig zu sein“, erklärt er. Spätestens dann fängt man an, auch auf das eigene Reden zu achten. Doch am Ende des Romans stockt einem das Blut in den Adern.

Heimat versus Nation

Die gesellschaftlich schizophrene Wirklichkeit Südtirols, aus der die Autorin stammt (heute lebt sie in der Nähe von München), bildet gleichsam eine Folie für die Geschichte des heranwachsenden Paolo. Die Region ist in zwei, bzw. drei Sprachgruppen geteilt, in Italienisch, Deutsch und nebenbei auch Ladinisch, das aber eigentlich keine Rolle spielt. Wobei die eine Sprachgruppe (die deutsche) der Hochsprache nur mühsam mächtig ist und vor allem im Dialekt der Heimat redet, und die andere (die italienische) keinen lokalen Dialekt kennt und nur in der nationalen Hochsprache redet. Das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen wird durch einen strengen Proporz, eine Art sprachlich-kulturelle Apartheit geregelt, bei der sich jeder amtlich bindend für eine Sprachgruppe entscheiden muss. „In Bozen hat alles zwei Bezeichnungen, manchmal auch drei“, so Paolo. „Das ist ein Problem, weil die Wörter Macht über die Dinge ausüben, eine Macht, die alles verändert.“ Das ist ein Roman, der einem Alex Langer gefallen hätte.

© Julia Mayer / Folio Verlag

Maddalena Fingerle (29), wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München

Der junge Mann kommt mit alldem nicht zurecht. „Auch die Stadt kotzt mich an, vielleicht weil sie geteilt ist oder vielleicht, weil sie von Bergen eingekesselt ist und ich kriege keine Luft mehr zum Atmen (…).“ Er macht schließlich Abitur, haut ab, flieht nach Berlin, wo er Mira aus Mailand kennen lernt. Mit ihr und ihrem Freundeskreis gelingt es ihm, wieder einen „sauberen“ Zugang zur Sprache – und damit zum Leben – zu finden. Er zieht zusammen mit Mira, die ein Kind von ihm erwartet, zurück nach Bozen. Ein Neustart bahnt sich an. Doch dann legt sich neuer Dreck auf alte Wörter und es wird für Paolo schließlich unmöglich, sie sauber zu waschen.

 Anagramme und ein Subtext

„Wenn du die Wörter auseinandernimmst und die Buchstaben anschaust, dann sagen sie dir die Wahrheit.“ Es ist immer auch die Autorin, die so aus Paolo spricht. Und sie ist mindestens so in Sprache verliebt wie ihr Geschöpf. „Die Buchstaben, wenn du sie dir nur genau genug anschaust, sind ehrlich, und sie verraten dir die Geheimnisse.“ So stellen sich die Namen der Protagonisten als Anagramme heraus. Paolo Prescher etwa ein Anagramm für parole sporche („dreckige Wörter“), die Mutter Giuliana Prescher ein Anagramm für sprecherai lingua („du wirst Sprache vergeuden“) oder die Freundin Mira di Pienaglossa, die ihm hilft die Sprache wieder sauber zu machen, ein Anagramm für Sapone di Marsiglia (frz. „Savon de  Marseille“ – Kernseife). In der Übersetzung wird das zusammen mit Begriffen, Zitaten und Anspielungen anders als im italienischen Original durch Anmerkungen erklärt. Dann zum scheinbar leicht dahinfließenden Erzähltext gehören mehr oder weniger versteckte Hinweise auf andere Texte von Leopardi bis Stephen King, von Tasso bis zu Houellebecq. Dazu gesellt sich ein geheimnisvoller Barockdichter (Giovan Battista Marino). Es gibt schließlich einen Subtext, in dem die Autorin ihr eigenes Tun selbstironisch reflektiert.

Ein Buch, das so anspruchsvoll auf Sprache ausgerichtet ist, auch auf den Klang der Wörter, scheint  bei der Übersetzung auf den ersten Blick auf solche Hilfsmittel wie Krücken angewiesen. Sie sind notwendig, bleiben aber im wahrsten Sinne am Schluss des Buches im Hintergrund. Denn der Übersetzerin Maria Elisabeth Brunner gelingt es kongenial, den Ton des Originals zu treffen. Vom ersten Satz an: „Seit ich auf der Welt bin, heult meine Mutter.“ Im Italienischen che mia madre piange bleibt das piange noch weitdeutig wie etwa in der wörtlichen Übersetzung „weint meine Mutter“. Aber weil sie „heult“, ist mit einem Schlag der richtige Ton für Paolos Mutter getroffen. Auch am Ende des ersten Absatzes (Lei è stupida, non capisce e quindi piange)  kann man wörtlich übersetzen: „Sie ist dumm, versteht es nicht und weint deshalb.“ Aber die Übersetzung von Brunner („Sie ist dumm, sie kriegt nichts mit und sie heult, was sonst.“) geht über das Original hinaus und trifft es deshalb so gut.

Natürlich bleiben Unterschiede. Und allein die Tatsache, dass der supersprachsensible Paolo jetzt auf Deutsch erzählt, muss für die Autorin ein kleiner Schock gewesen sein. Ein Unterschied ist sogar handgreiflich. Dem gleichsam atemlosen, schnellen Duktus des Erzählen steht im italienischen Original die Notwendigkeit gegenüber, sich die Seiten langsam zu erarbeiten, denn die Bücher des kleinen Triestiner Verlags Italo Svevo sind nicht aufgeschnitten. Und dieses Geräusch beim Aufschneiden/Aufreißen, das ist es, was das Original so unverzichtbar macht.

Maddalena Fingerle: Muttersprache. Roman. Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner. Folio Verlag, Wien/Bozen (2022). 192 Seiten, 22 Euro