DER DIALOG DER MUSEN


Das kulturelle Venedig lebt nach langem Lockdown wieder auf. Und in die Lücke der verschobenen Architekturbiennale ist 125 Jahre nach der Gründung der Biennale eine  dokumentarisch geprägte Ausstellung über die gemeinsame Geschichte ihrer sechs Sparten getreten.

© Cluverius

Der Präsident und sein Leitungsteam: (v.l.) Roberto Cicutto (Präsident Biennale), Alberto Barbera (Kino), Cecilia Alemani (Kunst), Ivan Fedele (Musik), Antonio Latella (Theater), Hashim Sarkis (Architektur). Es fehlt Marie Chouinard (Tanz), die nicht zur Eröffnung kommen konnte.

Venedig (bis 8.12.) – Gold fließt in den Fenstern des Museo Correr, die sich der Piazza San Marco zuneigen. Venedig will mit dieser Installation des Videokünstlers Fabio Plessi gegenüber der Markusbasilika spektakulär zeigen, dass es wieder geöffnet hat. Zu besichtigen sind – allerdings meist nur nach einerAnmeldung online  – wieder Museen und Kultureinrichtungen von Peggy Guggenheim bis zum Palazzo Grassi, von der Galleria dell’Accademia bis zur Ca’ Rezzonico. Die einer großen Öffentlichkeit gewidmete Architekturbiennale musste jedoch aufs kommende Jahr und dementsprechend die nächste Kunstbiennale von 2021 auf 2022 verschoben werden. Ausgerechnet jetzt zum Jubiläum, 125 Jahre nachdem die erste Biennale ins Leben gerufen worden war, muss Venedig auf einen solchen Kulturhöhepunkt verzichten. Die Lücke kann man nicht füllen, doch hat man aus der Not eine Tugend gemacht. 

Unter dem Titel „Le muse inquiete“ (Die unruhigen Musen) stellen sich die sechs Sparten der Biennale – Kunst (ab 1895), Musik (1930), Kino (1932, seit 1935 jährlich), Theater (1934), Architektur (1980) und Tanz (1999) – ihrer Geschichte. Die Direktorinnen und Direktoren der einzelnen Sparten der Biennale haben die Ausstellung gemeinsam kuratiert, koordiniert hat sie Cecilia Alemani, die Direktorin der Kunstbiennale 2022.

Eine auch politische Kulturgeschichte

Beim Gang durch 13 Säle taucht man in eine breite Kulturgeschichte ein, in der die sechs Musen einen Dialog untereinander führen. Der birgt Überraschungen oder sorgt, je nach Alter der Besucher, für Déjà-vu-Eindrücke. Und er ist höchst politisch. Spannend sind etwa die Jahre unter dem Faschismus zu erleben, als die Kinobiennale eine Leni Riefenstahl und ihren Olympiafilm „Triumph des Willens“ prämiert und Goebbels zu Besuch kommt. Gleichzeitig aber ein in Deutschland verfemter Max Reinhardt auf dem Campo San Trovaso Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ in italienischer Sprache inszeniert oder „entarte Musik“ von Schönberg oder Hindemith aufgeführt werden darf. Die 1968er Jahre sind geprägt von Polizeieinsatz und Künstlerprotest. 1974 wird Freiheit für Chile gefordert. 1997 klagt eine Marina Abramović die ethnischen Säuberung in den Balkanstaaten mit ihrer Installation „Balkan Baroque“ an, wobei sie im weißen Kittel einen Haufen blutiger Rinderknochen putzt.

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Biennale 1974 – Freiheit für Chile

Auf der Grundlage des enormen, 1928 gegründeten „Biennale-Archivs der gegenwärtigen Künste“ (ASAC) werden Dokumente vor allem zwischen den 1920er und den 1990er Jahren präsentiert. Selten steht dabei das anschauliche Werk im Vordergrund, meist knüpfen Fotos, Videos, Audioeinspielungen, Zeitungsausschnitte, Briefe etc. den roten Faden der einzelnen Abschnitte. Der ist einerseits nicht leicht aufzunehmen, unverzichtbar ist der Gebrauch der beim Eintritt verteilten (oder aufs Smartphone herunter zu ladenden) Gratisbroschüre in englischer oder italienischer Sprache.

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Affront gegen das Berliner Ensemble: 1951 eingeladen, doch die Regierung verweigert die Einreise

Andererseits lohnen die vielen kleinen Geschichten, die mit etwas Mühe so zutage treten. Wenn sich etwa die Visconti- und die Fellini-Fraktionen auf der Kinobiennale 1954 bekriegen. Oder wie die chinesische Botschaft 1974 versucht, eine Vorführung von Antonionis Film „Chung Kuo, China“ zu verhindern, was nicht gelingt. Zuvor gelang es allerdings 1951 der italienischen Regierung auf Bestreben des damaligen Staatssekretärs und später mehrfachen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, eine Einladung des Berliner Ensembles mit Brechts „Mutter Courage“ zu boykottieren, indem sie den Ostberlinern schlicht die Einreise verweigerte. Eine Geschichte, die sogar dem Wahlberliner und gegenwärtigen Direktor der Theaterbiennale Antonio Latella erst durch die Vorbereitung auf diese Ausstellung präsent wurde.

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Peggy Guggenheim auf der Biennale 1948 – zu Gast im damals leerstehenden Pavillon Griechenlands

Eine Fülle von Namen und Erinnerungen tauchen auf: Peggy Guggenheim 1948 , Luigi Nono 1960, Aldo Rossi 1979, Pina Bausch 1985, Jeff Koons 1990. Kuratoren wie Harald Szeemann, Jean Clair oder Hans Hollein. Dazu kommt die Einrichtung der Biennale selbst, ihre wechselnden Organisationsformen und Statuten.

Die Länderpavillons in der Geschichte

Und was die Länderpavillons angeht: auch deren Geschichten werden dokumentiert. Wie die von Hans Haacke, der 1993 den Boden des deutschen Pavillons aufreißt, um an die Nazi-Vergangenheit des Gebäudes zu erinnern. Heute verbreiten die zurzeit verlassenen Länderpavillons eine merkwürdig stille, zeitlose Stimmung in den Giardini, durch die man auf den zentralen Pavillon der Biennale zugeht. Hier drinnen, wo die Ausstellung aufgebaut ist, sorgen allerdings viele Videos und die musikalische Untermalung für einen bunten Geräuschteppich.

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Langsam kehren auch die Touristen zurück – San Marco, Ende August

Das kulturelle Venedig lebt in diesen Tagen wieder auf. Gerade hat auf dem Lido unter strengen Covid-Regeln die Kinobiennale als erste große internationale Veranstaltung dieses Spätsommers mit Publikumspräsenz begonnen. Zum Glück sind die Besucherzahlen der in den vergangenen Jahren besonders durch den Tagestourismus arg gebeutelten Stadt noch nicht auf alte klaustrophobische Höhen gestiegen. Doch drängen sich besonders an Wochenenden in den Gassen zwischen San Marco und Rialto-Brücke wieder Touristen aus dem Ausland. Und ebenso kann es auf den Vaporetti, die den Canal Grande befahren, eng werden. Ein Sicherheitsabstand etwa bei den Sitzplätzen ist nicht vorgesehen. An Bord gelassen wird aber nur der, der eine Gesichtsmaske trägt. Weil sie aber nichts mit dem hier verwurzelten Karneval gemein hat, gibt das der Überfahrt eine melancholische Note.

Das (noch) frischgrüne Wasser der Lagune, das aufspritzt, wenn die Boote auf der Rückfahrt von den Giardini der Biennale im Becken von San Marco Fahrt aufnehmen, beweist, dass die touristische Auszeit während des Lockdowns der Natur der Serenissima gut bekommen ist. Doch alte Gewohnheiten lassen sich ebenso wenig abschütteln wie die Rhythmen der Urkräfte. Ende August verwandelte das erste (noch leichte) Hochwasser des Spätsommers Teile des Markusplatzes in eine glitzernd bewegte Fläche, in der man sich nasse Füße holen konnte. Auch in Venedig ist nicht alles Gold, was glänzt.

Le muse inquiete. La Biennale di Venezia di fronte alla storia. Padiglione centrale, Giardini della Biennale, Venedig bis 8.12. Eintritt 12 Euro mit ausführlicher Gratisbroschüre (italienisch oder englisch). Geöffnet tgl. außer montags 11 bis 19 Uhr (10 bis 18 Uhr ab 6.10.). Buchung der Karten obligatorisch über www.labiennale.org., wo auch die Broschüre heruntergeladen werden kann.  Ein Katalogbuch ist in Vorbereitung.

Okwui Enwezor (verstorben 2019), sowie den in diesem Jahr 2020 gestorbenen ehemaligen Biennale-Kuratoren Maurizio Calvesi, Germano Celant und Vittorio Gregotti wird von der Biennale ein Goldener Löwe der Erinnerung verliehen.