DER TAG DER BEFREIUNG


Die neue Berlusconi-Mehrheit, der Kampf um die Bewertung des Widerstandes und die Hoffnung der linken Opposition – ein Gespräch mit Claudio Magris

© Cluverius

Welche Rolle spielt heute die Erinnerung an die Resitenza?

Triest/Mailand (23.04.2008)– Italien feiert traditionell am 25. April den Tag seiner Befreiung von faschistischer Herrschaft und deutscher militärischer Besatzung. Die aktive Rolle des Widerstandes bei der Befreiung hatte den Geist der demokratischen Verfassung von 1948 bestimmt und jahrzehntelang als eine Art Gründungsmythos die ideologische Basis der italienischen Republik getragen. Auf dieser Basis hatten sich die aus dem Widerstand kommenden politischen Gruppen von den Christdemokraten bis zu den Sozialisten und Kommunisten in einem parlamentarischen „Verfassungsbogen“ zusammen gefunden, der zugleich die Faschisten und ihre Nachfolgeorganisationen ausschloss. Mit dem Fall der Mauer und dem Ende der Nachkriegszeit zerbrach in Italien, verschärft durch einen Korruptions- und Finanzskandal, dieser „Verfassungsbogen“. Es kam unter anderem mit der Gründung der Alleanza Nazionale (AN), der demokratischen Nachfolgepartei neofaschistischer Gruppen, zu einer Umbildung der Parteienlandschaft. Die AN hat sich inzwischen mit Berlusconis Forza Italia zu der neuen großen Mitte-rechts-Partei PDL (Volk der Freiheit) zusammengeschlossen, die überraschend deutlich in einem Bündnis mit der norditalienischen Lega die jüngsten Parlamentswahlen gewinnen konnte. Der Triestiner Claudio Magris (69), Schriftsteller, Germanist und Ende der neunziger Jahre als unabhängiger Vertreter eines Linksbündnisses Mitglied im römischen Senat, äußert sich im Gespräch über die Bedeutung des 25. Aprils heute und die kulturpolitischen Herausforderungen für die linke Opposition.

Der „Tag der Befreiung“ steht in Italien zur Diskussion. Nach dem Wahlsieg von Berlusconi mehren sich Signale, ihn politisch und kulturell abwerten zu wollen. Man hört sogar Stimmen, welche die Geschichte umschreiben zu wollen. Wie gefährlich ist dieses Klima?

Claudio Magris: „Das ist ein komplexer Vorgang. In Italien gibt es seit einigen Jahren eine Debatte um diesen Feiertag. Das hängt damit zusammen, dass in unserer Parteienlandschaft Kräfte aufgetaucht sind, die heute zweifelsohne demokratisch sind, aber ihre Traditionen in einer anderen Geschichte haben. Was das Umschreiben von Geschichte angeht, würde ich solche Äußerungen nicht überbewerten. Aber es geht um die Interpretation von Geschichte. Die Gefahr dieses kulturpolitischem Klimas liegt in dem Versuch der Rehabilitation des Faschismus und der Delegitimierung des Widerstands. Und das berührt wirklich die Basis unseres Gemeinwesens. Hier geht es auf gefährliche Weise um den Versuch, ein anderes Italien zu schaffen.“

»Die Verteidigung unserer Grundwerte ist unabdingbar«

Drückt der 25. April heute noch Werte aus, die für ganz Italien gelten?

Magris: „Ich habe mal in einem Artikel geschrieben, dass diejenigen, die den 25. April nicht mehr „Tag der Befreiung“, sondern etwa mit einer Provokation „Tag der Italiener“ nennen wollen, ihm damit ungewollt sogar eine Ehre erweisen. Damit wird doch deutlich, dass der 25. April und nicht etwa das Datum des Marsches auf Rom ein Festtag für alle Italiener ist. Die Ideen von Widerstand und Demokratie, von Gerechtigkeit und Freiheit sind doch nach wie vor die Grundlagen unserer Republik. Richtig ist allerdings, dass besonders die Linke lange Zeit Fehler im Umgang mit diesem Tag begangen hat. Da gab es zuviel Rhetorik, zuviel Oberflächlichkeit. Und man hat sich zu wenig darum gekümmert, was die anderen gedacht und gefühlt haben. Mich interessiert dabei nicht unbedingt ein Festtag, aber die Verteidigung unserer Grundwerte ist unabdingbar.“

Auf den Namen einer großen bürgerlichen Widerstandsgruppe, „Giustizia e Libertà“ (Recht und Freiheit), rekurriert die Vereinigung „Libertà e Giustizia“, die Sie zusammen mit Umberto Eco und anderen 2002, also vor sechs Jahren während der ersten vollen Regierungsperiode von Berlusconi gegründet haben. Was kann die heute noch tun?

Magris: „Die Gruppe Libertà e Giustizia ist entstanden, als es damals die ersten Angriffe gegen den 25. April als Symbol des Widerstands gab. Ein Angriff weniger gegen den Widerstand in seiner historischen Dimension als gegen das, was er bis heute repräsentiert. Das beste, was die Vereinigung leistet, sind dabei nicht so sehr große öffentliche Veranstaltungen, sondern „politischen Schulen“, die wir vor allem in der Provinz initiiert haben. Da gibt es Weiterbildungskurse, um die Menschen wieder näher an die Politik zu bringen.“

»Das Verhältnis zur Politik hat sich verändert«

Und der Erfolg?

Magris: „Zahlenmäßig hat das noch nicht so viel gebracht, wie man sich das wünschen mag. Aber das ist vielleicht der richtige Weg. Ich glaube jedenfalls weniger an Veranstaltungen, wo wir unter uns sind. Ein Teil der Linke wendet sich immer noch an ein Italien, das es nicht mehr gibt. Es hat tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft gegeben. Das Verhältnis zur Politik hat sich verändert. Wir müssen mit diesem anderen Italien reden. Wir müssen, wie Paulus sagt, „den guten Kampf“ führen, doch uns zugleich demütig fragen, ob wir wirklich auf der Höhe der Zeit sind und die Gegenwart verstanden haben.“

Zum Beispiel die frisch aufgebrochene Debatte über Norditalien?

Magris: „Das hat uns selbst überrascht und vielleicht liegt auch hier der Grund unserer Niederlage. Berlusconi und die Alleanza Nazionale haben zusammen kaum dazu gewonnen. Die Lega hat dagegen gewaltige Gewinne einfahren können. Ich habe mit der Lega immer Probleme gehabt. Auf meine Zeitungsartikel bekam ich von Seiten der AN oft Kritik aber nie Beschimpfungen und Schmähungen zu hören. Die bekam ich allerdings von Angehörigen der Forza Italia und besonders von der Lega. Dieser Mikronationalismus, der sich hier, wie übrigens ebenfalls in anderen Teilen Europas, breit macht, ist schrecklich.

Ich hasse alle Nationalismen, aber die kleinen sind die schlimmsten. Doch die Linke hat versäumt, die Ängste der Menschen in den nördlichen Regionen ernst zu nehmen. Zum Beispiel das Problem der Sicherheit und der Gewalt. Die Lega hat verstanden, dass das ein Problem für die Leute ist. Bei den Linken und Progressiven galt zu lange bereits als Reaktionär, wer sich ihm überhaupt stellte. Dagegen müssen wir den Menschen klar machen, dass wir diejenigen sind, die diese Probleme demokratisch und solidarisch lösen können statt autoritär und barbarisch. Wir dürfen uns jetzt nicht einfach zurückziehen und unsere Wunden lecken.“

»Wir müssen, wie Thomas Mann, ein bisschen „unpolitisch“ werden«

Und die regionalistischen Tendenzen?

Magris: „Man muss abwarten, ob die wieder erstarkte Lega wirklich eine ernsthafte Regionalpartei vergleichbar etwa der katalanischen ist, und den Norden zwar nicht vom übrigen Italien trennen will, aber doch stärke Autonomie verlangt. Dann werden wir noch unser blaues Wunder erleben, denn ihr Koalitionspartner Berlusconi repräsentiert ja geradezu das andere, angeblich „parasitäre“ Italien, auch wenn sie ihn persönlich als fähigen Unternehmer schätzt. Tatsache ist, dass Mitte-links auf gefährliche Weise die Lega unterschätzt hat und ihre Art, sich von der nationalen Politik abzusetzen.“

Einer der versucht, die Sprache der Lega zu sprechen, ist der Komiker und Blogger Beppe Grillo, der den 25. April zu einem Tag des Protestes umwandeln will.

Magris: „Ich schätze ihn sehr als Komiker, doch bleibt er mit seinen Demonstrationen eher eine Randerscheinung. Sie tendieren, wenn Politik an sich schlecht gemacht wird, zur populistischen Gleichgültigkeit. Dabei ist konkrete Kritik an der Politik und an der Klasse der Politiker, die sich von der realen Gesellschaft entfernt hat, gerechtfertigt und wichtig. Ganz zu schweigen von Kritik an Korruption und solchen Auswüchsen. Darin steckt auch eine notwendige Abwehr gegen die heutige Überpolitisierung. Wir müssen wie Thomas Mann ein bisschen ‚unpolitisch’ werden. Doch gerade Thomas Mann hatte bereits 1918 begriffen, dass die Werte eines ‚Unpolitischen’ links und nicht rechts verteidigt werden.“

»Natürlich genügen nicht nur kulturelle Kontakte«

Kann Europa helfen?

Magris: „Und wie! Ich bin ein überzeugter Europäer und träume davon, eines Tages einen Ministerpräsidenten eines föderalen Europas wählen zu können, der Rossi heißen kann oder Schulze, Smith oder Gonzales. Europa ist fundamental für Italiens Zukunft. Nicht zufällig sind gerade konservative europäische Zentrumspolitiker entsetzt über die Wiederkehr Berlusconis. Zum Beispiel wie er schon im Wahlkampf den Rücktritt des Staatsoberhauptes gefordert hat, nur weil Giorgio Napolitano nicht zu seinem politischen Lager gehört. Das war unwürdig. Natürlich genügen nicht nur kulturelle Kontakte. Manzoni, Goethe oder Cervantes reichen da nicht aus. Wir brauchen ein anderes Klima der politischen Kultur. Es ist sicher nicht alles Gold, was in der großen Koalition in Deutschland glänzt, aber dieses Klima ist doch ein ganz anderes, als das, was die Regierung Prodi hat scheitern lassen.“

Ihre Gemütslage?

Magris: „Sie haben gesiegt, aber ihr Sieg ist nicht von Dauer. Non praevalebunt* heißt es schon im Evangelium von Matthäus.“

© Hanser Verlag/Peter-Andreas Hassiepen

Claudio Magris, geb. 1939, lebt in Triest.

*Math, 16; 18: Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.

Langfassung eines in der Süddeutschen Zeitung am 25. April 2008 veröffentlichten Gesprächs. Die meisten Übersetzungen der Arbeiten von Claudio Magris ins Deutsche sind im Carl Hanser Verlag (München) erschienen.