DIE SCHMERZEN DER IDENTITÄT


Der bedeutende sardische Erzähler und Intellektuelle Salvatore Mannuzzu ist im Alter von 89 Jahren in seiner Heimatstadt Sassari gestorben

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Salvatore Mannuzzu (Pitigliano 1935 – Sassari 2019)

Mailand/SassariSalvatore Mannuzzu kam 1930 in der Toskana als Sohn einer sardischen Familie auf die Welt. Von 1955 bis 1976 war er Richter auf Sardinien in Bosa und Sassari, danach bis 1987 Abgeordneter im römischen Parlament ( als Unabhängiger gewählt auf der Liste der Kommunistischen Partei). Als Schriftsteller setzte er sich in Erzählungen und Romanen wie Procedura (Einaudi 1988) – ausgezeichnet mit dem Premio Viareggio) – Un morso di formica (Einaudi 1989) oder Alice (Einaudi 2001) mit seiner sardischen Heimat auseinander. Der Intellektuelle und Autor auch von Essays über Politik, Rechtswissenschaft und Kultur gilt als eine Art Vaterfigur für die jüngere Literaturszene der Insel. Salvatore Mannuzzu ist jetzt am 10. September in seiner Heimatstadt Sassari gestorben.

Auf Deutsch hat Sigrid Vagt Procedura ( „Der Fall Valerio Garau“ – Hanser 1991/Rowohlt TB1994) und Un morso di formica („Der Biss einer Ameise“ – Hanser 1995/ Rowohlt TB1998) übersetzt. Henning Klüver besuchte Salvatore Mannuzzu vor zehn Jahren für den NDR (Literarische Spaziergänge – Sardinien, gesendet 10.1.2010) in Sassari. Ein Auszug aus dem Sendemanuskript:

Hanser Ausgabe 1991

Regie: O-Ton Mannuzzu
Tutti noi che scriviamo storie in Sardegna, tutti noi autori di fiction, ambientiamo le nostre storie in Sardegna. Questa fedeltà, questo eccesso di fedeltà io trovo che sia tipico di noi sardi…

3. Sprecher (Zitator Mannuzzu):
„Wir alle, die wir auf Sardinien Geschichten erzählen, siedeln sie, mit wenigen Ausnahmen, auch auf Sardinien an. Diese Treue, diese übertriebene Treue, ist typisch für uns Sarden. Und das hat etwas mit dem starken Identitätsgefühl zu tun, das uns gegeben ist. Wir sind eine Insel, eine richtige Insel, weit ab im Meer gelegen. Heute kann man das Flugzeug nehmen, aber die Nächte, die man bei der Überfahrt auf dem Meer verbracht hat, bleiben eine kulturelle Erinnerung. Auch in der Geschichte haben wir diese schwierige Beziehung zur Außenwelt gehabt. Also wir sind sowohl geografisch als auch historisch eine Insel. Das Identitätsgefühl befindet sich in einer Krise. In einer globalen Sinnkrise werden überall auch Identitäten in Frage gestellt. Wir aber leben diese Identitätskrise auf vielleicht besondere Art. Einige sind sich ihrer bewusst, andere wollen nichts von ihr wissen. Sie tun so als sei die Welt noch heil und schreiben noch, als hätte sich Sardinien seit Grazia Deledda nicht verändert. Kultur ist klebrig, löst sich langsam auf, ist wie ein amputiertes Glied. Einem Onkel von mir hat man während des Krieges ein Bein amputieren müssen. Und später beklagte er sich: mir schmerzt das Knie von diesem Bein, mir schmerzt der Fuß. Manchmal geht es uns Sarden mit unserer Identität ähnlich. Unsere Identität, auch wenn sie in der Krise ist, schmerzt uns wie ein amputiertes Glied.“

Siehe auch: Henning Klüver, Gebrauchsanweisung für Sardinien, (3. Auflage Piper Verlag, München 2016)