DIE UNERTRÄGLICHKEIT DES REALEN


Mehr als ein Kriminalroman: „Ciros Versteck“ von Roberto Andò zwischen Roadmovie und Kammerspiel im Folio Verlag

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Stadt zwischen Barmherzigkeit und Verbrechen: Neapel

Mailand/Neapel – Das ist ein spannender Roman, in dem sich Lebensstränge durch einen Zufall verknoten und einen dramatischen Verlauf nehmen. Der Musikprofessor Gabriele Santoro, der am Konservatorium von Neapel unterrichtet, lebt ohne weiteren Kontakt zu den Mitbewohnern in einem Haus mitten in der Stadt. Kultur – die Musik, die Poesie, allen voran die Gedichte des griechischen Lyrikers Konstantinos Kavafis, die er laut bei der Morgentoilette rezitiert – ist ihm alles. Die Welt außerhalb seiner Wohnung bleibt ihm fremd. Eines Tages sieht er sich dem Sohn einer Nachbarfamilie gegenüber. Ein Kind noch, wenig mehr als zehn Jahre alt, und doch schon in die Kleinkriminalität des Viertels verstrickt. Ciro, so heißt der Junge, bittet den Professor, ihn zu verstecken. Und der, ohne nach einem Grund zu fragen, nimmt ihn auf.

Schließlich erkennt Santoro die Gründe von Ciros Flucht. Es geht um eine Verwicklung mit dem Camorra-Clan des Viertels. Der Musiker begreift, dass er seinen Elfenbeinturm verlassen und dem Jungen bestehen muss. Der Bruder des Professors, ein Richter, will von nichts wissen. Die lokale Polizei muss sich mit den Mafiosi arrangieren. Die Nachbarschaft bleibt teilnahmslos bis feindlich. Die Situation droht aus dem Ruder zu laufen. Da entwickelt Gabriele Santoro einen Plan: „So wie du kannst, / arbeite endlich, Verstand“ heißt es in einem Gedicht von Kavafis. Und der Professor weiß, dass Ciro vor einer Weggabelung steht. Und dass es um Leben und Tod geht.

Zwischen Laster und Tugend

Das Ypsilon symbolisiert eine Astgabel (italienisch: forcella). Als Kreuzwegfigur des Pythagoras ist es Symbol für die Trennung zwischen den Wegen des Lasters und der Tugend. Forcella ist der Name eines alten, zentral gelegenen Stadtviertels von Neapel, das im Wappen eine Astgabel führt – vermutlich weil es sich zwischen zwei Straßenzügen erstreckt, die schließlich in einer Gabelung münden. Traditionell ist das ein Viertel mit hoher krimineller Dichte. Zugleich sind von hier immer wieder Initiativen gegen die Camorra ausgegangen – am Bekanntesten ist vielleicht der Priester Don Luigi Merola von der Kirchengemeinde San Giorgio Maggiore in Forcella, der sich Verdienste vor allem in der Jugendarbeit erworben hat.

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Eine Astgabelung – das Wappen von Forcella

Vizio e virtù, Laster und Tugend fließen also in Forcella zusammen. Und es ist wohl kein Zufall, dass Roberto Andò seinen Roman „Ciros Versteck“ (Folio Verlag) in diesem Viertel angesiedelt hat. Zugleich führen verschiedene Situationen der Erzählung durch ganz Neapel, von den Quartieri Spagnoli bis zur touristischen Uferpromenade von Santa Lucia, von den Campi Flegrei und der mysteriösen Grotte der Sibilla Cumana bis hinter Pozzuoli zum Lido di Napoli und Lucrino, wo die Handlung auf ein Showdown zuläuft – das dann aber nicht stattfindet. Jedenfalls nicht dort.

Verletzliche Schönheiten

Neapels Schönheiten sind verletzlich, brüchig die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Stadt bildet den Außenraum der Dramaturgie dieses vielschichtigen Romans, der mehr als ein herkömmliche Krimis ist. Reichtum zeigt sich im Innenraum, begrenzt von den Wänden der Wohnung des Musiklehrers, wo sich zwischen dem bereits durch Realität verhärteten Jungen aus der Unterschicht und dem weltfremden bürgerlichen Intellektuellen teils eine Vater-Sohn-Beziehung, teils ein Lehrer-Schüler-Verhältnis entwickelt, die beide Personen verändert. Barmherzigkeit und Verbrechen: Andò beruft sich auf Anna Maria Ortese und die von ihr formulierte Poetik der „Unerträglichkeit des Realen“.

Der Autor schlägt einen zurückhaltend sachlichen, fast lakonischen Ton an, den die Übersetzerin Verena von Koskull trefflich ins Deutsche überträgt. Dass auch sie nicht umhin kann, die „macchinetta del caffè“, mit der in ganz Italien auf heimischen Herd der Kaffee aufgesetzt wird, „Espressokanne“ zu nennen – ein völliger Unsinn, der allerdings inzwischen sogar von der deutschen Wikipedia-Seite gedeckt wird –, wollen wir gerne überlesen.

Vom Buch zum Film

Bis auf die beiden Protagonisten, denen der Autor eine Entwicklung gestattet, bleiben die anderen Figuren Rollen. Rollen die Recht, Unrecht, das Böse und Gemeine repräsentieren oder einfach nur Mitläufer benennen. Auch durch diese knappen Beschreibungen trägt der Text Züge eines Treatments fürs Kino, was sich aus Roberto Andòs Biographie erschließen lässt. Er wurde 1959 in Palermo geboren, hat mehre Spielfilme gedreht, aber auch Theaterstücke und Opern inszeniert. Die Originalausgabe des Romans erschien 2019 unter dem Titel Il bambino nascosto („Das versteckte Kind“) beim Mailänder Verlag La nave di Teseo. Im Jahr darauf begann Andò mit die Dreharbeiten zum Film, der in diesem Sommer in die Kinos kommen soll. Solch einen Stoff zwischen Roadmovie und Kammerspiel konnte der Autor, der auf vielen kulturellen Wegen unterwegs ist, nicht nur der Literatur überlassen. Und wer weiß, vielleicht macht er daraus auch noch eine Theaterstück.

Warum siedelt ein sizilianischer Autor diese Geschichte in Neapel und nicht etwa in Palermo an? Roberto Andò kennt Neapel, die Hauptstadt des Südens, wie seine Westentasche. Zurzeit leitet er dort das Teatro Mercadante. In einem Interview sagt er, er habe Neapel gewählt, weil die Camorra anders als die Cosa Nostra in Palermo eine „instabilere und anarchischere Struktur“ habe. Was aber die „Verhaltenskodizes“ betreffe, seien „alle Mafien gleich abscheulich“. Menschliche und moralische Grenzen würden gesprengt. Wer hier einen aufrichtigen Weg einschlägt, kann sein Leben verlieren – oder es gewinnen. 

Roberto Andò: Ciros Versteck. Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen (2021). 232 Seiten, 22 Euro