Carl Wilhelm Macke: Eine sentimentale Erinnerung
„Ein Teil von uns muß bereits lange vor unserer Zeit
seinen Anfang genommen haben. Anders als einen die
Erfahrung lehrt, habe ich den Eindruck, daß man nicht
auf einmal geboren wird. Ich glaube, daß man Stück
für Stück auf die Welt kommt, daß auch ich auf gewisse
Weise schon weit vor meiner Zeit begonnen habe.
( Richard Obermayr „Das Fenster“ )
Ferrara/Vicarello (Bracciano) – Zusammen mit vier Freundinnen verbrachte meine Mutter Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einige Monate in dem kleinen Ort Vicarello am Lago di Bracciano, nördlich von Rom. Dort befand sich in jenen Jahren eine kleine vatikanische Sommerresidenz, der auch eine von Nonnen geleitete Hauswirtschaftsschule angegliedert war. Wer die jungen Frauen aus dem mit Gottvertrauen und – jedenfalls in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – mit Priestern überreich gesegneten Oldenburger Münsterland dorthin geschickt hatte, weiß ich nicht. Vermutlich haben meine Großeltern, die in einem Nest in jener Gegend ein Hotel besaßen, die Adresse von einem örtlichen Pfarrer oder, was wahrscheinlicher ist, von Dominikanern erhalten, die ein Internat in dem Ort unterhielten.
In der Villa am Lago di Bracciano, so berichtete es mir später immer wieder meine Mutter, sei in der sommerlichen Ferienzeit auch Kardinal Pacelli, der spätere Papst Pius XII. zu Gast gewesen. Häufig erzählte sie mir von diesem Aufenthalt in der malerisch am Wasser gelegenen alten Villa, deren Eingang von Palmen überschattet wurde, und von deren Terrasse aus man seinen Blick weit über den See schweifen lassen konnte. Bei gutem Wetter habe man sogar die Kuppel des Petersdoms erahnen können, die für einen Münsterländer Katholiken aus der Generation meiner Eltern immer als eine Art Leuchtturm auf ihrem Erdenweg diente.
Am Ufer des Lago Bracciano
Es muss für meine Mutter ein beglückender, vielleicht sogar der in der Erinnerung schönste Abschnitt ihres Lebens gewesen sein. Niemals erlebte ich diese mir oft depressiv erscheinende Frau so heiter, so leicht, so verliebt in ihre eigenen Erzählungen wie in den Momenten, in denen sie mich an ihren Erinnerungen an die Zeit in der Villa am Ufer des Lago di Bracciano teilnehmen ließ. Die wenigen italienischen Wörter, die ich als kleines Kind aus ihrem Mund vernommen habe, reichten, um in mir eine für viele Jahre brennende Neugierde auf ein Land wachsen zu lassen, das Menschen wenigstens für die kurze Zeit einer Erzählung aus der Sprachlosigkeit herausziehen kann, die sonst ihr Leben wie einen Nebel einhüllt.
Gemeinsam sahen wir uns im Fernsehen immer wieder die Verfilmungen der Erzählungen über Don Camillo und Peppone von Giovanni Guareschi mit Fernandel und Gino Cervi in den Hauptrollen an. Atemlos und mit großer Anspannung saß die ganze Familie vor dem Fernseher als Kardinal Angelo Roncalli zum ersten Mal als Papst Johannes XXIII. auf der Loggia des Petersdomes erschien. Ebenso andächtig, ebenso ergriffen sahen wir uns dann später die Übertragung der pompösen herzbeklemmenden Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen „Papa Buono“, den guten Vater aus Bergamo, an. Und während wir da vor dem Fernseher saßen, begann sie wieder von ihrer glücklichen Zeit am Lago di Bracciano zu erzählen, der mir immer mehr zu einem beinahe schon heimatlichen Stück Italiens wurde, auch wenn ich aber noch nie gesehen hatte. Zu ihren Lebzeiten konnte ich ihn nur aus den Erinnerungen meiner Mutter in der Phantasie vorstellen.
In der Villa lebte niemand mehr
Erst nach ihrem Tod fuhr ich zum ersten Mal an den von ihr geliebten See. Sah endlich die Villa, von der sie mir so viel erzählt hatte, mit eigenen Augen. Sie lag immer noch an den sanften Hängen einer malerischen Bucht und ich verstand, warum sich eine Frau, die in ihrem Leben nur selten ihre Heimat verlassen hatte, so sehr verzaubern ließ. In der Villa lebte jetzt niemand mehr. Seit Jahren schon verwitterte sie. Der Zugang zu ihr war mit einem rostigen Zaun verschlossen. Man sagte mir, ein großer Investor wolle sie kaufen und sie in ein Wellnesshotel mit angrenzendem Golfplatz für wohlhabende Touristen umwandeln.
In Girovago/ Fremdling, meinem italienischen Lieblingsgedicht von Giuseppe Ungaretti, heißt es an einer Stelle: „A ogni nuovo/ clima/ che incontro/ mi trovo/ languente/ che/ una volta/ gia gli ero stato/ assuefatto“
( „In jeder/ neuen/ Luft,/ die mir begegnet,/ fühle ich Sehnsucht;/ denn/ sie war/ schon einmal/ mir vertraut“.) Und in wenigen Augenblicken, vielleicht an einem Spätsommernachmittag auf den Deichwegen entlang des Po, wo ich heute viele Monate im Jahr verbringe, ahne ich heute noch etwas von dieser neuen Luft, die ich, wie es bei Richard Obermayr heißt „ auf gewisse Weise schon weit vor meiner Zeit“ gespürt habe. Und an manchen Tagen erscheint das Licht der Emilia wie ein einziges Déjà-vu, das mich beklemmend stark in meine weit zurückliegende Kindheitstage hineinsaugt.
Rückkehr aus verlebten Zeiten
Vielleicht war es auch die Luft und das Licht, die meine Mutter während ihres Aufenthalts am Lago di Bracciano so glücklich gemacht haben. Es in Worte zu übersetzen, gelang ihr nicht. Ich versuche es immer wieder, aber auch meine Worte bleiben nur Annäherungen. „Nascendo/ tornato da epoche troppo/ vissute“ ( „Bin geboren/ auf der Rückkehr aus/ verlebten Zeiten“ ), heißt es weiter bei Ungaretti. Jeder Aufenthalt in Italien, in der Emilia, ist für mich immer auch eine Erinnerung an eine vertrautes Land, das es nicht mehr gibt und eine Rückkehr in ein fremdes Land, das nur noch in der Erinnerung existiert.
*Der Publizist Carl Wilhelm Macke lebt in München und in Ferrara. Er koordiniert die Arbeit des Vereins „Journalisten helfen Journalisten“ zur Unterstützung von in Not geratenen Medienvertretern und ihren Familien aus Kriegs- und Krisengebieten und aus Staaten, in denen die journalistische Freiheit bedroht ist.