DIE ZEIT IST WEG


Jürgen Hosemann hat mit „Das Meer am 31. August“ eine wundervolle Erzählung über die Langsamkeit und das Warten auf Veränderungen geschrieben

© Cluverius

„Liebe Silke, weißt du, wie lange es dauert, bis vierundzwanzig Stunden vergangen sind?“ – Viele Gelegenheiten, um aufs Meer zu gucken.

Mailand/Grado – Das ist wie Urlaub vom Urlaub. Fast 24 Stunden verbringt der Ich-Erzähler am Meer, lässt die Familie hinter sich. Zwischen dem Morgenlicht, das flackert, „als könnte es jederzeit wieder ausgehen“, bis zur Nacht, als es so dunkel ist, „dass die Erinnerung das Einzige ist, was man sieht.“ Der Erzähler kann spüren, „wie der Tag durch mich hindurch zieht.“ Er beobachtet sich, indem er anderen zusieht. Indem er auf Veränderungen wartet. Im Licht. Im Wind. Im Meer. Indem er vieles notiert, um all das Unaufgeregte nicht zu vergessen. Eine Schwimmerin mit roter Badekappe. Ein Liebespaar auf den Felsen des Wellenbrechers. Einsiedlerkrebse im Priel. Schiffe auf dem Wasser. Und: „15 Uhr 35. Nichts.“

Jürgen Hosemann hat mit dem Protokoll eines Selbstversuchs eine wundervolle Erzählung über die Langsamkeit geschrieben:  Das Meer am 31. August. Ein Tag vergeht in Grado an der Adria-Küste mit Blick auf die Bucht von Triest, wo Südeuropa Mitteleuropa ist und zu Osteuropa wird: „Triest. Koper. Izola. Piran.“ Aber das ist nur der Rahmen. Zu dem gehören auch Erinnerungen an Biago Marin (1891-1985), den Lyriker aus Grado, der im lokalen Dialekt ein globale Sprache gefunden hatte. Oder Notizen aus der Zeitung und das Bewusstsein, dass gerade jetzt im selben Meer, weiter im Süden, Menschen auf der Flucht ertrinken: „Du hast dich an einen Friedhof gesetzt.“

Der Autor Jürgen Hosemann, geboren 1967, arbeitet als Lektor und Herausgeber zahlreicher Anthologien zur Reiseliteratur in Frankfurt. Er ist außerdem Mitherausgeber der Werke von Wolfgang Hilbig (1941 – 2007), dem er auch freundschaftlich verbunden war. Das Meer am 31. August ist sein erstes Buch.

Ein träges, riesiges Lebewesen

Doch der Protagonist der Erzählung ist nicht der Ich-Erzähler. Der Protagonist ist das Meer in Form von Zeit. In einem Gedicht von Hilbig, das Hosemann zitiert, heißt es: „das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.“ Ein „träges, riesiges Lebewesen“ nennt der Erzähler das Meer gleich zu Anfang. Eine Art Ewigkeit wie die Zeit, die immer da ist, auch wenn sie vergeht. „Vor mir liegt die breite Nacht, das andere Ufer ist nicht zu sehen. Ein tiefer Graben trennt uns vom Morgen.“

Es steckt auch viel Selbstironie in dieser Erzählung („Und jetzt? Pompelmo.“). Sie ist voller kleiner, meist nur angedeuteter Nebengeschichten  – wie die Text-Entwürfe für eine Postkarte an die Freundin Silke. Derweil kann der Leser sich bei der Lektüre im Erlebnis von Langsamkeit üben und im Alltäglichen das Besondere erkennen.

Und mit dem Autor erschrecken: „Es ist dunkel. Die Zeit ist weg.“

Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August. 112 Seiten, 18 Euro. Berenberg Verlag, Berlin (2020)