Ferrara zwischen Mussolinis Rassengesetzen, der deutschen Besatzungszeit und dem Kampf um Erhaltung der Kulturgüter nach dem Krieg. Carl Wilhelm Macke erinnert an den Avvocato Paolo Ravenna
Ferrara – Slargo Avvocato Paolo Ravenna steht auf dem Straßenschild. Im Deutschen könnte man Slargo vielleicht mit „Ausbuchtung“ oder „Verbreiterung“ übersetzen. Ungefähr auf der halben Wegstrecke von Ferraras wunderbaren Renaissancestrasse Via Ercole Primo, unmittelbar nach dem Ausstellungszentrum im Palazzo Diamanti und in der Nähe jener versteckt liegenden Grundstücke, wo sich vielleicht der Garten der Finzi Contini befunden haben könnte, stößt man auf einen solch kleinen, unscheinbaren Slargo. Wahrlich keine spektakuläre Piazza – und in Tourismusführern wird man vergeblich nach ihm suchen. Wer aber war dieser Avvocato Paolo Ravenna – in Ferrara 1926 geboren und 2012 ebenda gestorben – an den hier mit der ihm angemessenen Nüchternheit seit Anfang des Jahres 2018 erinnert wird?
Mit einer anderen Gedenktafel in Ferrara könnte ein Porträt dieses Mannes und seiner Familie beginnen. An der Außenwand der Synagoge in der Via Mazzini sind die Namen derjenigen Ferrareser Juden eingemeißelt, die in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden. Und der Name Ravenna taucht dort so häufig wie kein anderer Name auf. Es sind nicht die engsten Angehörigen von Paolo Ravenna, an deren Vernichtung dort erinnert wird. Seine eigene Familie hatte die faschistische Verfolgung im Schweizer Exil überlebt. Aber trotzdem hätte er sehr viele Gründe gehabt, skeptisch, vorsichtig zu sein mit Deutschland und uns Deutschen. Wir, die nach dem Krieg geborenen Deutschen sind an den monströsen Verbrechen der Nazis nicht schuld, aber natürlich sind sie ein unauslöschlicher Teil deutscher Geschichte.
Ein Deutscher, der vor den Deutschen schütze
Als wir, der um mehr als zwei Jahrzehnte jüngere deutsche Journalist aus München und Paolo Ravenna aus Ferrara uns kennen lernten, bat er mich noch bei dem ersten Zusammentreffen, bei der Recherche nach der Identität eines deutschen Soldaten behilflich zu sein. Während der Besatzungszeit durch die Nazi in Ferrara sei dieser deutsche Soldat, so erzählte mir der Avvocato, täglich in die städtische Bibliothek gegangen, um sich dort mit den italienischen Klassikern zu beschäftigen. Dieser bildungsbewusste Besatzungssoldat habe nach Aussagen noch lebender Zeitzeugen alles ihm mögliche getan, um die Bibliothek vor Vandalenakten der deutschen Soldateska zu schützen. Vor allem um die in der Bibliothek liegenden Archivmaterialien der jüdischen Gemeinde von Ferrara habe sich dieser deutsche Soldat große Sorgen gemacht.
Nicht alle deutschen Besatzungssoldaten, das habe ich von Paolo Ravenna, aber auch durch die Lektüre des Buches Il disperso di Marburg („Der verschollene Deutsche„) von Nuto Revelli gelernt, haben sich in Italien offensichtlich so barbarisch aufgeführt wie die Erschießungskommandos in Marzabotto im Hinterland von Bologna, im toskanischen Santa Anna di Starzema oder in den Fosse Ardeatine bei Rom. Ein ziviles Erinnern an historische Verbrechen, an die Verbrechen der italienischen Faschisten und der deutschen Nationalsozialisten, schließt nicht das Verzeihen ein, aber den souveränen Mut zur Differenzierung. Für den jüdischen Rechtsanwalt Ravenna war das eine Selbstverständlichkeit.
Ein Kanon ziviler Werte
Und zu dieser Erinnerung gehört auch die Bewahrung, die Pflege und die Fortsetzung der durch die Faschisten schrecklich gedemütigten Kultur des europäischen Judentums. Für mich repräsentierte Paolo Ravenna mit seinem beruflichen Ethos, mit seinem jahrzehntelangen Engagement zum Erhalt von Kulturgütern, mit seiner trotz vieler Kritik tiefen Liebe zur Stadt Ferrara und mit seiner großen persönlichen Verlässlichkeit einen Kanon ziviler Werte. Der wird als Maßstab für persönliches wie politisches Handeln Bestand haben. Vorsichtiger formuliert: der ist es wert, erinnert zu werden.
Paolo Ravenna versuchte mit seiner Arbeit dazu beizutragen, dass Zivilität und Urbanität in Italien und vor allem in seinem Ferrara keine Begriffe aus einer längst vergangenen Zeit wurden. In einer Wochenendbeilage der heute nicht mehr existierenden Tageszeitung Italia Oggi erschien einmal ein ausführliches Porträt Ravennas. Es fällt schwer, so konnte man da in dem Beitrag von Giorgio Costa lesen, den Avvocato mit wenigen Worten vorzustellen: er übte seit Jahrzehnten den Beruf des Rechtsanwaltes aus, jahrzehntelang war er Präsident der lokalen Sektion von Italia Nostra, jener von seinem Lehrer und Freund Giorgio Bassani gegründeten Organisation, die sich um den Erhalt des riesigen Schatzes von Natur- und Kulturdenkmälern in Italien sorgt.
In Ferrara hat sich Italia Nostra – und namentlich Paolo Ravenna – besondere Verdienste um die vorbildliche Rekonstruktion der alten Stadtmauer erworben, die die gesamte Altstadt heute wieder fast vollständig umringt. In dem Artikel wurde auch an den Liebhaber klassischer wie moderner Malerei Paolo Ravenna erinnert, der seine fundamentalen Lektionen in Kunstgeschichte in den dramatischen Jahren zwischen 1938 und 1943 in der Ghettoschule in der Via Vignatagliata bei Giorgio Bassani gelernt hat, der wiederum ein Schüler des legendären Roberto Longhi gewesen war.
Die Rassengesetze und der jüdische Friedhof
Jahrelang war Ravenna für viele Journalisten und Historiker eine zentrale Figur, an die man sich immer wenden konnte, wenn man von einem Zeitzeugen der faschistischen Jahre in Italien, besonders auch der Rassengesetze von 1938, mehr erfahren wollte als in den vielen Büchern geschildert worden war. Zu einem Porträt von ihm gehört unbedingt auch seine Leidenschaft für die Photographie. Dem Jüdischen Friedhof am Ende der Via delle Vigne hat er eine Band mit eigenen Photographien und Texten von verschiedenen Ferrareser Autoren gewidmet.
Natürlich sind dort Texte von Giorgio Bassani abgedruckt, aber auch von anderen, bei uns weniger bekannten Autoren wie zum Beispiel von Gianfranco Rossi. Auch der entstammte dem Ferrareser Judentum und musste wie die Familie von Paolo Ravenna 1943 bis 1945 in die Schweiz flüchten. Mit seinen schriftstellerischen Arbeiten hat Rossi immer im Schatten seines berühmten Vetters Giorgio Bassani gestanden. In Rossis Erzählungen erfährt man auch etwas von der Kinoverrücktheit der Geburtsstadt von Michelangelo Antonioni. Aufenthalte in dunklen Kinosälen spielen bei Rossi immer eine zentrale Rolle.
Und zu den von Paolo Ravenna ausgewählten Autoren gehört auch Guido Fink, ein ebenfalls exzellenter Filmkenner, der viele Jahre das Italienische Kulturinstitut in Los Angeles geleitet hatte. Und dann sind in dem Friedhofsband noch als Beispiele für viele andere Grabschriften aus verschiedenen Epochen ausgewählt. Unter ihnen die Erinnerung an Eugenio Ravenna, einem Vetter des Avvocato, der in Auschwitz war, das Lager aber im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern überlebt hatte.
Der Bürgermeister Renzo Ravenna
An den Avvocato Ravenna, der im November 2012 gestorben ist, kann man aber nicht erinnern, ohne den Namen seines Vaters Renzo Ravenna zu erwähnen. Ilaria Pavan hat über ihn eine Biographie („Il podesta ebreo. La storia di Renzo Ravenna tra fascismo e leggi razziali.“ Editori Laterza 2006) veröffentlicht. Dazu schrieb der deutsche Historiker Hans Woller in einer Rezension: „Die Geschichte von Renzo Ravenna ist ohne Beispiel. Er war der erste und einzige Jude, der nach dem sogenannten Marsch auf Rom im Oktober 1922 zum Bürgermeister ernannt wurde; von 1926 bis 1938 hielt er sich in diesem herausgehobenen Amt – und zwar in Ferrara, einer frühen Hochburg des Faschismus, in der bis weit in die dreißiger Jahre hinein die eigentliche Nummer Zwei des Regimes und Mussolinis wichtigster Gegenspieler, Italo Balbo, fast uneingeschränkt herrschte.“
Mit den Leggi razziali den Rassengesetzen von 1938 endete auch die Amtszeit des bis dahin in Ferrara hoch angesehenen jüdischen Bürgermeisters Renzo Ravenna, der vielleicht mit großer Naivität glaubte, die Faschisten würden ihn und seine jüdische Familie schonen. Die engere Familie musste in die Schweiz fliehen, viele Verwandte wurden in die Vernichtungslager der Nazis deportiert. In Erinnerung an die öffentliche Rolle seines Vaters engagierte sich der Paolo Ravenna über viele Jahrzehnte für den Erhalt wichtiger städtischer Bauwerke und für das Nicht-Vergessen der städtischen jüdischen Kultur. Dass sein Vater den Faschisten bis zu den Rassegesetzen ein so großes Vertrauen entgegenbrachte, hat der Avvocato dabei nie vergessen. Aber „abgerechnet“ hat der Sohn deshalb mit seinem Vater nie. Er hat nur versucht, eigene Zeichen des Widerstands gegen diese Unkultur zu setzen, die sein Vater Renzo nicht sah oder nicht sehen wollte.
Eine historische Ausbuchtung
Dass es heute in Ferrara das MEIS, das große Museum zur Geschichte des Judentums in Italien gibt, ist auch ein Verdienst von Paolo Ravenna. Hinter dem unscheinbaren Slargo Avvocato Ravenna in der Via Ercole D’Este verbirgt sich also die bewegte Biographie eines republikanisch gesonnenen, laizistischen jüdischen Anwalts, der das Gedenken an seinen faschistischen Vater und seiner von deutschen Nazis umgebrachten Verwandten mit seinem zivilen Engagement aufrechterhalten wollte. So ist der Slargo Ravenna auch so etwas wie ein „Slargo storico“, eine „historische Ausbuchtung“.
Zur Person von Carl Wilhelm Macke: siehe hier