EIN PIEMONTESICHES SCHNABELTIER


Wissenschaftler, Literat und engagierter Intellektueller – 
Manuskript eines Radio-Feature für NDR-Kultur (Januar 2007)
zum 75. Geburtstag von Umberto Eco

copyright Cluverius

Umberto Eco: „Kultur ist Gedächtnis, Aufbewahrung von Begriffen der Vergangenheit, auch von den falschen.“ – Mauer der Mailänder Basilika Sant’Amborgio

Anfangsmontage

Musik

O-Ton Coscia: Mi ero incuriosito, proprio in una viuzza qua vicino lì ho visto questo ragazzino con il violoncello.
Zitator Coscia: „In einer Gasse ganz in der Nähe war das, da bin ich auf diesen Jungen aufmerksdam geworden, der ein Cello trug.”

O-Ton Renate Eco: „Das war in Franfurt zur Buchmesse, da musste mein Mann sowieso hin, der war da für den Verlag tätig, da haben wir denn eben auch gleichzeitig geheiratet.“

Zitator Eco: „Ich gehe und hinterlasse dies Schreiben, ich weiß nicht für wen, ich weiß auch nicht mehr worüber: Stat rosa pristina nomine, nomine nuda tenemus.“

O-Ton Michael Krüger: „Ich weiß nicht, wer über mehr Sprache verfügt als er.“

O-Ton Furio Colombo: „Il nostro modo di essere di sinistra non aveva legami con il partito comunista che allora era così importante nella vita culturale italiana:“
Zitator Colombo: „Unser Linkssein hatte keine Beziehung zur kommunistischen Partei.“

O-Ton Inge Feltrinelli: „Er ist manchmal ein sehr melancholischer Mensch.“

Die Bibliothek

Atmo Bibliothek mit Eco:
La biblioteca è organizzata così: qui è la zona donne…

Erzählerin:
Nicht ohne Ironie führt Umberto Eco durch die Bibliothek seiner Wohnung in Mailand. Es beginnt mit der sogenannten Frauenzone, weil hier Bücher über Kunst und Architektur stehen, die auch seine Frau Renate und seine Tochter Carlotta interessieren.
Dann gibt es einen geheimnisvollen braunen Schrank, in dem neben anderen Objekten, Mitbringseln aus Reisen und einer kleinen Sammlung von Ziffernblätter alter Uhren nur braune Bücher stehen. Und wenn ein Buch nicht braun ist, steht es nicht hier.

Atmo Eco
Quindi se un libro non è marrone, lì non c’è… Questo è il corridoio della letteratura, delle letterature, della critica letteraria…

Erzählerin:
Es folgt ein langer Korridor mit literarischen Büchern in vielen Sprachen, und mit Bücher zur Literaturkritik. Rund 30.000 Titel sind in dieser Bibliothek versammelt.

Atmo Eco
E questo è lo studio con i libri di saggistica…

Erzählerin:
Sachbücher, Titel unter anderem zu Themen der Philosophie und der Semiotik, aber auch die Klassiker der Antike, findet man im anschließenden Studio, wo mehrere Arbeitstische stehen. Dazu große Kartons, in denen die Bücher landen, die ins Landhaus bei Rimini gebracht werden. Und diejenigen, die der Professor seinen Studenten an der Universität Bologna schenkt, weil es inzwischen kaum noch Raum für neue Bücher in der Mailänder Wohnung gibt.

Atmo Eco
Qui quelli sbatto in campagna…, qui quelli che regalo agli studenti a Bologna che sono decine, decine ogni giorno e non posso permettermi di tenerli qui.

Erzählerin:
Bibliotheken habe Geschichte geschrieben. Umberto Eco hat, wie wir aus „Der Name der Rose“ wissen, eine gewisse Vertrautheit mit benediktinischen Klosterbibliotheken, und so ist es nicht verwunderlich, dass er sich öfters über Bibliotheken geäußert hat. Wie in diesem Text aus dem Jahr 1987, der zugleich seine Lust belegt, ein Problem in Paradoxien zu fassen:

Zitator Eco:
„Zu manchen Zeiten, vielleicht schon zwischen Augustus und Konstantin, war die Aufgabe einer Bibliothek sicher auch das Bereitstellen ihrer Bücher zum Lesen, also mehr oder weniger das, was die schöne Resolution der UNESCO besagt, in der es heißt, es sei einer der Zwecke von Bibliotheken, dem Publikum das Lesen zu ermöglichen. Später sind dann aber Bibliotheken entstanden, die eher den Zweck verfolgten, das Lesen nicht zu ermöglichen, die Bücher unter Verschluss zu halten, sie zu verbergen. Allerdings waren diese Bibliotheken auch so beschaffen, dass man Funde in ihnen machten konnte. Wir staunen immer wieder über die Fähigkeit der Humanisten des 15. Jahrhunderts, verschollene Handschriften wiederzufinden. Wo fanden sie sie? In Bibliotheken. In Bibliotheken, die teilweise zum Verbergen dienten, aber auch zum Bewahren und damit zum Fundemachen.“ ( U.E., Die Bibliothek, Hanser 1987)

Aufgewachsen in Alessandria

Musik Coscia

O-Ton Gianni Coscia
Io Umberto Eco l’ho incontrato per strada un giorno…

Zitator Coscia:
„Ich habe Umberto Eco eines Tages auf der Straße getroffen, das muss zur Zeit der Mittelstufe gewesen sein. In einer Gasse ganz in der Nähe war das, wo früher die Stadtbibliothek lag. Da bin ich auf diesen Jungen aufmerksam geworden, der ein Cello trug. Ich kannte ihn nicht, sprach ihn aber trotzdem an, ich lernte damals gerade Akkordeon spielen, und er erzählte mir von seinen Cellostunden. Wir haben uns vorübergehend aus den Augen verloren und in der Untertertia wieder gefunden, als wir auf das Gymnasium kamen, gleich nach Kriegsende, 1945 also. Dann haben wir alle Klassen bis zum Abitur gemeinsam durchlaufen. Für eine gewisse Zeit gegen Ende des Gymnasiums waren wir auch Banknachbarn.“

Erzählerin:
Gianni Coscia, Jahrgang 1931, und Umberto Eco, Jahrgang 1932, sind beide in Alessandria geboren und haben dort das humanistische Gymnasium besucht. Alessandria ist eine Kreisstadt des Piemont und liegt in der Po-Ebene auf halbem Weg zwischen Turin und Mailand. Gianni Coscia arbeitete nach einem Jurastudium u.a. im Bankwesen, bevor er vor etwa 20 Jahren sein Liebe zum Akkordeon und zur Jazzmusik zum Beruf machte. Er gilt inzwischen in Italien als einer der angesehensten Jazzer der alten Generation. Noch heute treffen sich Coscia, Eco und andere Freunde ein, zwei Mal im Jahr, um gemeinsam Musik zu machen – oder um wie Schuljungen herumzualbern.

O-Ton Gianni Coscia
Adesso mi rendo conto che già allora non mi ero sbagliato…

Zitator Coscia:
„Ich hatte von Anfang an den Eindruck, einer Person gegenüber zu stehen, die uns allen überlegen war. Ich erinnre mich dass seine Mutter mir gegen Ende der Schulzeit einmal sagte: Ich weiß nicht dieser Junge, Du wirst wenigstens Jura studieren und eine Arbeit finden, aber er will Philosophie belegen, der wird noch vor Hunger sterben. Und ich sagte: Signora Rita, ich weiß nicht, was ihr Sohn werden wird, aber vor Hunger sterben wird er sicher nicht.“

Zitator Eco:
„Einmal, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war, träumte ich, ich hätte eine Trompete. Eine vergoldete. Wissen Sie, das war so einer von diesen Träumen, bei denen man meint, man hätte Honig in den Adern, so eine Art von nächtlicher Pollution, wie man sie in der Pubertät haben kann. Ich glaube, ich war nie so glücklich wie in jenem Traum.“

Erzählerin:
Die Stadt Alessandria am Tànaro-Fluss und die nahen Hügel zum Monferrato kommen in den Romanen von Umberto Eco vor. In „Baudolino“ wird die Gründung Alessandrias beschrieben. „Die Insel des vorigen Tages“ beginnt mit der Belagerung des benachbarten Casale Monferrato während des dreißigjährigen Krieges. Und der Protagonist des Romans „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“, der nach einer Krankheit sein Gedächtnis verloren hat, begibt sich in das Haus seines Großvaters, das an der Grenze zwischen den Landschaften der Langhe und des Monferrato liegt, um seiner Jugendzeit nachzuspüren. Der Nebel ist in diesen Landstrichen ebenso zu Haus, wie der Wein, der an sanften Hängen wächst. Und es wird viel geträumt in Ecos Jugendzeit. Der Traum von der goldenen Trompete ist eines dieser vielen, manchmal versteckten autobiographischen Elemente im Werk des Autors. In „Das Foucaultsche Pendel“ erzählt die Hauptfigur Jacopo Belbo – natürlich ein Piemontese wie sein Autor – die Geschichte dieses Traums.

Zitator Eco:
„Beim Aufwachen merkte ich dann natürlich, dass die Trompete nicht da war, und ich fing an zu heulen wie ein Schlosshund. Ich heulte den ganzen Tag lang. Wirklich, diese Vorkriegszeit damals, es muss so um Achtunddreißig gewesen sein, das war schon eine sehr karge Zeit. Heutzutage, wenn ich einen Sohn hätte und ihn so verzweifelt sähe, würde ich sagen, na komm, ich kauf dir eine Trompete – es ging schließlich bloß um ein Spielzeug, das hätte schon nicht die Welt gekostet. Nicht so meine Eltern, die dachten gar nicht daran. Geldausgeben war damals eine ernste Sache.“ (U.E. Das Foucaultsche Pendel. Hanser 1989)

Erzählerin:
Die Rettung kommt durch den Onkel und die Tante, die dem Jungen den Traum erfüllen wollen und mit ihm ins Kaufhaus Upim gehen. Dass er das Kaufhaus mit einer billigen Klarinette und nicht mit einer Trompete verlässt, gehört zur Tragik dieser Geschichte. Ein Leben lang hat Umberto Eco dann weder Trompete, noch Klarinette oder Cello gespielt, sondern Holzflöte. Er besitzt heute eine kleine Sammlung von Barockflöten.

Turin und bei der Rai in Mailand

Musik – Berio, Mozartvariationen
(Berio, Il passato nel presente, Orchestra Verdi, Milano. Decca 476283-0, 2004)

O-Ton Furio Colombo
Ci siamo conosciuti nel 1949/50 all’università di Torino…

Zitator Colombo:
„Wir haben uns 1949/50 auf der Universität Turin kennen gelernt, im Palazzo Campana, dem historischen Sitz. Die beiden langen Gänge der philosophischen und der juristische Fakultät waren durch zwei Glastüren getrennt. Zwischen diesen Türen lag das Studio von Norberto Bobbio, der Philosophie in der Fakultät unterrichtete, wo Umberto Eco studierte, und Jurisprudenz in der Fakultät, wo ich studierte. Und weil ich bei Professor Bobbio arbeitete, gab es diesen Anknüpfungspunkt zwischen der Rechtswissenschaft und der Philosophie.“

Erzählerin:
Furio Colombo ist ein Jahr jünger als Umberto Eco und stammt aus Turin. Der bekannte Journalist, Amerikaexperte und Jurist hat sich im Frühjahr 2006 als unabhängiger Kandidat auf der Liste der Linksdemokraten in den Senat, die zweite römische Parlamentskammer, wählen lassen. Zur Zeit seines Studiums war Turin für Geisteswissenschaftler in Italien so etwas wie eine Exzellenzuniversität, auf der bekannte Professoren wie eben Norberto Bobbio oder der Jaspers-Schüler Luigi Pareyson unterrichteten, die zudem durch das Fegefeuer des antifaschistischen Widerstandes gegangen waren. Umberto Eco und Furio Colombo schlossen schnell Freundschaft und arbeiteten auch gemeinsam in der Studentenbewegung.

O-Ton Furio Colombo
Io ricorso che il suo primo articolo sul giornale Ateneo…

Zitator Colombo:
„Ich erinnere mich an seinen ersten Artikel in der Studentenzeitschrift „Ateneo“. Er trug die Überschrift: Eine halbes Huhn pro Kopf. Darin ging es auf witzig, spritzig und zugleich intelligente Weise um die Erkenntnis, dass die Gesellschaft für die Menschheit statistisch ein halbes Huhn pro Kopf bereit hält. Aber in Wirklichkeit besitzen wenige einige Dutzende von Hühnern, während andere nie welche gesehen haben.

Erzählerin:
Wie schon zur Schulzeit zählte Umberto Eco auch unter den Studenten bald zu den brillantesten Köpfen. Furio Colombo stand ihm nur in wenig nach. Und ein dritter, der ein Studienjahr später kam, ragte heraus: Gianni Vattimo, der sich wie Eco bei Professor Luigi Pareyson mit Fragen der Ästhetik beschäftigte. Vattimo gilt heute als einer der führenden Philosophen Italiens. Warum Eco vor etwas über 50 Jahren seine Doktorarbeit zur Ästhetik bei Thomas von Aquin geschrieben hat, begründet er heute so:

O-Ton Umberto Eco
C’è gente che da tesi sulle vita sessuale delle formiche…

Zitator Eco:
„Mich hat nicht das Sexualleben der Ameisen interessiert, also habe ich mich mit Thomas von Aquin beschäftigt. Aber das ist vielleicht eine zu naheliegende Antwort. Sagen wir es so: In Thomas von Aquin hat mich seine intellektuelle Reinheit interessiert. Zu der Zeit als ich die Arbeit begann, bewegte ich mich noch in der katholischen Welt, und deshalb faszinierte mich ein christlicher Denker. Und als ich fertig wurde, hatte ich mich bereits von dieser Welt entfernt. Das Verdienst fällt vielleicht dem Heiligen Thomas selbst zu, je mehr ich ihn studierte, desto mehr rückte ich ihn von mir weg, um ihn von allen Seiten betrachten zu können. Es war so, als ordnete man Schriftstücke eines geliebten Menschen, der gerade verstorben ist. Er spielte also eine merkwürdige Rolle für mich. Ein bisschen das Gegenteil von Thomas Merton, der Trappistenmönch wurde, als er Joyce las.“

Erzählerin:
Auf das Trio Eco, Colombo, Vattimo wurde auch das italienische Staatsfernsehen aufmerksam, das damals gerade im Aufbau war. Alle drei wurden nach Mailand zur RAI gerufen. Eco und Vattimo beschäftigten sich mit dem Kulturprogramm, Colombo mit dem journalistisch-politischen. Mailand war in den 50er Jahren zweifellos die Kulturhauptstadt Italiens. Die Scala war nach schweren Kriegsschäden wieder aufgebaut worden, hier feierte die Callas ihre Triumphe. Giorgio Strehler und Paolo Grassi hatten das Piccolo Teatro gegründet. Dario Fo begann seine Bühnenkarriere. Visconti drehte den Film „Rocco und seine Brüder“. Und Giangiacomo Feltrinelli baute gerade einen linken Buchverlag auf. Die Intellektuellen trafen sich in den Cafés und Bars rund um die Piazza Cairoli. Besonders eng waren die Kontakte zu Avangardmusikern wie dem Komponisten Luciano Berio, der bis zu seinem Tod vor drei Jahren eng mit Umberto Eco und Furio Colombo befreundet blieb. Berio hatte 1954 an der Mailänder RAI das „Studio di Fonologia Musicale“ für Strömungen der Gegenwartsmusik gegründet.

O-Ton Furio Colombo
E nella stessa occasione e attraverso Berio abbiamo incontrato John Cage…

Zitator Colombo:
„Bei diesen Gelegenheiten und über den Kontakt mit Berio haben wir auch John Cage kennen gelernt, den Propheten aller avantgardistischen Strömungen. Treffen dieser Art waren für uns alle wichtig, aber besonders für Umberto. Umberto war damals 23 Jahre alt und einer der wenigen italienischen Joyce-Gelehrten. Joyce war damals noch nicht ins Italienische übersetzt und gehörte nicht zum allgemeinen kulturellen Horizont. Das Verhältnis zu Joyce war wichtig, um zu verstehen, warum Gegenwartsmusik eine so große Rolle spielte und warum wir unbedingt John Cage kennen lernen mussten. Diese und andere Kontakte auf europäischem Niveau haben die Basis unseres intellektuelles Leben gefestigt.

Erzählerin:
Umberto Eco hat bei all diesen Aktivitäten nie sein Ziel aus den Augen verloren, sich weiterhin theoretisch mit ästhetischen Fragen zu beschäftigen. Er kann seine Doktorarbeit in Buchform veröffentlichen. Es folgen weitere Studien über mittelalterliche Ästhetik. Zugleich wächst sein theoretisches Interesse an modernen Kommunikationsformen, die er in der Praxis hautnah erlebt.

O-Ton Furio Colombo
Quello che aveva rallentato Umberto che lui aveva fatto il servizio militare…

Zitator Colombo:
„Durch den Militärdienst wurde Umberto in seiner Entwicklung etwas aufgehalten. Er musste deshalb bei der RAI aussetzen. Ich blieb davon verschont, weil bereits mein älterer Bruder eingezogen worden war. Mich holte dann Adriano Olivetti in sein Unternehmen. Aber ich habe nie einen so komischen und sympathischen Militärdienst gesehen, wie den von Umberto. Wenn man in die Kaserne kam, um ihn zu besuchen, sagte der diensthabende Offizier: „Warten Sie, ich muss nachsehen, ob der Professor frei ist.“ Denn der Professor arbeitete. In der Kaserne hatten sie ihm ein Zimmer gegeben, wo er mit seinen Büchern arbeiten und wo er auch Artikel schreiben konnte. Er arbeite bereits am „Offenen Kunstwerk“, seinem ersten wichtigen Buch nach der Doktorarbeit.

 

Die 60er Jahre, Heirat und die Gruppe 63

O-Ton Inge Feltrinelli
„Ich kenne Umberto aus den frühen 60er Jahren, als er ein junger Redakteur bei Bompiani war, einem großen renommierten italienischen Verlag, dem er immer treu geblieben ist. Und er war schon damals ein hochinteressanter, wilder Intellektueller.“

Erzählerin:
Inge Feltrinelli erzählt wie Valentino Bompiani auf den jungen Intellektuellen aufmerksam geworden war und ihn sich zunächst als Sachbuchlektor in seinen Mailänder Verlag geholt hat. Es dauerte nicht lange, dann stand Umberto Eco bereits der Abteilung vor. Noch jemand anderer wurde zu der Zeit auf ihn aufmerksam. Die junge Kunstpädagogin Renate Ramge hatte zuerst in Frankfurt bei Adorno und Horkheimer studiert und dann in Berlin die Kunstakademie besucht. Doch mit ihrer ersten Arbeitsstelle als Lehrerin war sie unzufrieden.

O-Ton Renate Eco
„Dann habe ich aber eine Arbeit bei Bompiani gefunden als Graphikerin – unten im Keller also nur als Hilfsgraphikerin, denn ich konnte kein Italienisch, das lernte ich dabei. Da habe ich meinen Mann kennen gelernt, das war „Die Geschichte der Erfindungen“. Dazu brauchten sie jemand, der in den Bibliotheken, in den Kunstbibliotheken suchte und Recherchen machte. Und so bin ich da langsam reingekommen. Später hatten wir dann das Projekt „Die Geschichte der Schönheit“ miteinander zu erarbeiten, das war aber ein bisschen schwierig, mein Mann hatte damals immer nur nachts um drei für dieses Projekt Zeit, weil er andere vorrangig bearbeite.“

O-Ton Inge Feltrinelli
„Er war unentwegt auf allen Festen, er kam zu meinen jederzeit, auch noch heute, wo er ein großer Weltstar ist. Er ist eigentlich immer der selbe geblieben, was sehr für ihn spricht. Ich kenne große Autoren, die, wenn sie einmal große Weltauflagen haben und viel Geld verdienen, werden unerträglich, eitel, usw., aber Umberto Eco ist weiterhin der nette, im Grunde bescheidene Intellektuelle aus Alessandria, einer traurigen Provinzstadt im Norden von Italien geblieben. Er zieht sich immer noch so schlecht an, nie ist er mal zu einem anständigen Schneider gegangen und hat sich tolle Anzüge machen lassen.“

O-Ton Renate Eco
„Ja im Römer haben wir geheiratet und der gute Herr Klose, der uns verheiratet hat mit seinem schwarzen Talar – also das war eine sekuläre Heirat, aber er hatte trotzdem einen schwarzen Talar wie ein protestantischer Pfarrer, er hat gesagt: „Nelle catastrophe della vita…“, hat also einen italienischen Text vorbereitet, das fanden wir alle ganz nett. Das war in Frankfurt zur Buchmesse, da musste mein Mann sowieso hin, da war da für den Verlag tätig, da haben wir dann eben auch gleichzeitig geheiratet.“

Erzählerin:
Das waren Jahre, in denen die Kultur in Italien begann, sich zu öffnen, sich zaghaft zu internationalisieren. Doch vielen Intellektuellen wie Umberto Eco, Furio Colombo, Lyrikern wie Eduardo Sanguineti oder auch Schriftstellern wie Luigi Malerba, Nanni Ballestrini und Giorgio Manganelli war das nicht genug. Um einen kulturellen Klimawechsel herbei zu führen und die Avantgarde im Land durchzusetzen, schlossen sie sich auf einer Tagung in Palermo zur „Gruppe 63“ zusammen, die sich als politisch links verstand, aber die Hauptrolle, die damals die Kommunistische Partei und ihr nahestehende Intellektuelle im kulturellen Leben des Landes spielten, nicht anerkennen wollte. Furio Colombo erinnert sich:

O-Ton Furio Colombo
Non solo c’era un legame con la Germania…

Zitator Colombo:
„Es gab da nicht nur Beziehungen nach Deutschland, sondern die Gründung erfolgte geradezu nach dem Vorbild der „Gruppe 47“. Das war kein amerikanisches, das war ein deutsches Vorbild. Der Hauptorganisator der Gruppe 63 war Nanni Ballestrini, der laufend nach Deutschland reiste. Und der damals ganz junge Verleger Klaus Wagenbach kam immer wieder nach Italien. Wir fuhren nach Berlin, wo er uns Treffen mit Günter Grass und anderen organisierte. Das war der Aufbruch eines europäischen Lebens. Und in diesen Kontakten nach Deutschland zeigte sich auch ein Ausbrechen aus dem üblichen Rechts-links-Schema in Italien.“

Erzählerin:
In der Zeitschrift der Gruppe 63,„Il Verri“, veröffentlicht Eco Beiträge unter dem Titel „Diario minimo“. Das waren Glossen wider den Zeitgeist, die sich mit Nabokovs Lolita ebenso beschäftigen wie mit Quizsendungen im Fernsehen – und das meist in parodistischer Form. Im Nachwort des Buches „Diario minimo“, das auf Deutsch später unter dem Titel „Platon im Striptease-Lokal“ erschienen ist und einige dieser Glossen zusammenfasst, schrieb der Autor:

Zitator Eco:
„Die Parodie darf sich nie vor Übertreibungen scheuen. Wenn sie ins Schwarze trifft, nimmt sie nur lachend vorweg, was andere später ohne zu lachen – und ohne rot zu werden – mit unbeirrbarer gravitätischer Sturheit tun. Anders gesagt, es ist eine der edelsten Aufgaben des nicht so ganz Ernsthaften, einen Schatten von Verdacht auf die allzu ernsthaft betriebenen Dinge zu werfen.“
(U.E., Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien. Hanser 1990)

Als Wissenschaftler in Bologna

Musik

O-Ton Furio Colombo
Il 68 lo abbiamo vissuto con la faccia contro gli eventi…

Zitator Colombo:
„Die 68er Zeit haben wir auf Augenhöhe mit der Entwicklung erlebt. Mit zwei Grundhaltungen. Auf der einen Seite hinderte uns nichts daran, mit den etwas Jüngeren Gemeinsamkeiten zu suchen. Wir waren nur ein bisschen älter als die Protagonisten von 68 und erlebten die Ereignisse zusammen mit ihnen. In jenen Jahren hatte ich zum Beispiel in Amerika unterrichtet, ich lernte die Friedensbewegung in Berkeley kennen und war in New York bei der Besetzung der Columbia University dabei. Umberto hatte derweil angefangen, in Bologna zu unterrichten. Und es begann eine abenteuerliche Phase, denn einerseits stand er auf der Seite der Studenten, auf der anderen Seite wollte er alles verhindern, was irrational und gewalttätig war.

Erzählerin:
Umberto Eco war nach ersten Lehrerfahrungen in Florenz und Mailand nach Bologna berufen worden, um am DAMS, einem kulturellen Sonderstudiengang der geisteswissenschaftlichen Fakultät, zu unterrichten. Der Fachbereich DAMS war in jenen Jahren eine geradezu revolutionäre Einrichtung. Hier wurde alles unterrichtet, was sonst an der Universität nicht gelehrt wurde: Theater und Journalismus, Film und Musik, Kunst und Verlagswesen.

O-Ton Patrizia Viroli
Io l’ho conosciuto nel ‘72 quando stavo lavorando alla tesi…

Zitatorin Vìroli:
„Ich habe ihn 1972 kennen gelernt, als ich über meiner Doktorarbeit brütete. Ich bin zu ihm gegangen, um Auskünfte zu erbitten, er unterrichtete am DAMS, ich studierte dagegen im philosophischen Fachbereich. Ich kannte ihn natürlich vom Namen her, lernte ihn bei dieser Gelegenheit aber zum ersten Mal persönlich kennen. Und habe ihn da und in der Folgezeit als entgegenkommend und mit einer unglaublichen Großzügigkeit erlebt. Er war noch nicht ganz so berühmt wie heute, galt jedoch bereits als wichtige Persönlichkeit. Und dennoch unterhielt er sich gerne mit unbekannten Studentinnen wie mich, die naiv und etwas zurückgeblieben waren.“

O-Ton Inge Feltrinelli
„Es ist wunderbar zu sehen mit seinen Studenten in Bologna, er hat mich eingeladen, zu einer Konferenz über Buchverlagswesen, und er setzte sich in die erste Reihe zu seinen Studenten, und da ist er wirklich glücklich, man merkt, er ist doch ein großer Pädagoge, der ist eigentlich genauso wie er immer war. Ein bisschen dicker, trinkt ein bisschen weniger, aber im Grunde ist er der selbe Umberto Eco, den ich kenne seit 40 Jahren.“

O-Ton Furio Colombo
Gli studenti sapevano che era dalla loro parte ma…

Zitator Colombo:
„Die Studenten wussten, das er auf ihrer Seite stand. Aber ihnen war auch klar, dass er niemals die irrationalen Tendenzen der Jugendrevolte von 68-79 unterstützt oder auch nur gebilligt hätte. Sie fanden in ihm gleichzeitig einen Verbündeten und ein Hindernis. Ein viel größeres Hindernis, als es jene einbalsamierten Universitätsrektoren waren, die bei jeder Schwierigkeit immer nur die Polizei zu rufen wussten. Hier wächst langsam das Bild eines intellektuellen Meisters, das bis heute vielleicht noch stärker wirkt, als das des berühmten und erfolgreichen Autors. Es ist verbunden mit einer persönlichen Ausstrahlung, die sich auf wissenschaftliche Logik und strenge Methodologie gründet, mit der er sich vor die Studenten gestellt hat, um ihnen das Leben in der Revolte zu ermöglichen, aber zugleich so schwer wie möglich zu machen: ohne Leichtfertigkeit, Banalität, Dummheit, Irrationalität und Zerstörungskraft.“

Erzählerin:
In Bologna baute Umberto Eco dann auch einen der ersten Doktorandenstudiengänge für Semiotik auf, eine Wissenschaft, die sich mit Problemen der Bedeutung von Zeichen und mit der Kommunikation beschäftigt. Bedeutung heißt, zu erkennen, was hinter dem Zeichen steht. Ecos Hauptthema ist das Problem der Freiheit und des Missbrauchs der Interpretation von Zeichen und Zeichensystemen. Den Doktorandenstudiengang leitete er bis zur Emeritierung vor zwei Jahren. Patrizia Vìroli, die Studentin aus den 70er Jahren, hat inzwischen seine Nachfolge angetreten.

O-Ton Patrizia Vìroli
Per la semiotica significa moltissimo se non quasi tutto…

Zitatorin Vìroli:
Für die Semiotik bedeutet er viel wenn nicht sogar alles. Und Bologna ist die führende Universität in dieser Hinsicht geblieben. Hier hat sich die Generation der inzwischen 50jährigen formiert, die heute das semiotische Denken in Italien prägen. Dabei ist Ecos Denken so originell, voller Neugier und Entwicklungslinien, das man eigentlich gar nicht von einem System reden kann. Natürlich gibt es einen präzisen Horizont, aber eines der großen Verdienste von Eco ist, dass er wie alle wirklichen Meister, seinen Schülern immer größtmögliche Freiheiten gelassen hat.“

Erzählerin:
In seinem Buch „Kant und das Schnabeltier“ geht er von der Entdeckung eines merkwürdigen Tieres am Ende des 18. Jahrhunderts in Australien aus. Achtzig Jahre lang stritten Wissenschaftler darüber, ob dieses Wesen, das die Natur mit einem Schnabel wie eine Ente aber auch mit einem dichten Fell wie bei einem Seehund ausgestattet hat, Säugetier, Vogel oder Reptil sei. Bis man sich darauf einigte, dass es sich bei dem Schnabeltier als große Besonderheit der Entwicklungsgeschichte um ein Säugetier handelt, das Eier legt und sich auch sonst gewohnten Klassifizierungen entzieht. Eco fand in dieser Debatte ein Musterbeispiel eines semiotischen Streitfalls:

Zitator Eco
„Jede Hypothese über den anzuwendenden Kategoriellen Rahmen beeinflusst die Art, wie man Beobachtungssätze formuliert und als gültig anerkennt (weshalb jemand, der das Schnabeltier als Säugetier betrachten möchte, nicht nach Eiern sucht oder sich weigert, sie anzuerkennen, wenn sie auftauchen, während jemand, der das Schnabeltier als ovipar betrachten möchte, sowohl Milchdrüsen als auch Milch abzustreiten versucht). Das ist die Dialektik von Kennen und Erkennen, bzw. von Erkennen und Wissen.“ (U.E.: „Kant und das Schnabeltier“, Hanser 2000)

Gedächtnis und Erinnerung

Erzählerin:
Der Begriff der Erinnerung, des Gedächtnisses spielt für ihn eine besondere Rolle.

O-Ton Umberto Eco
Sì, allora, per tre motivi. Uno: sono particolarmente legato al problema…

Zitator Eco:
Richtig, und das aus drei Motiven. Erstens: ich bin fühle mich dem Problem besonders verbunden. Wenn ich Marcel Proust gewesen wäre, hätte ich auch ganz sicher „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geschrieben. Das heißt, ich bin für das dem Thema Erinnerung immer empfänglich gewesen. Eine innere Neigung. Zweitens: Wenn man sich mit Semiotik beschäftigt, heißt das, daß man sich damit beschäftigt, was die Kultur ist, was das Gemeinsame des Wissens ist, auf dessen Grundlage wir uns gegenseitig verstehen und verständigen. Und die Kultur identifiziert sich mit der Erinnerung. Wenn man so will ist die Bibliothek das Sinnbild von Kultur. Oder auch das Museum. Kultur ist Gedächtnis, Aufbewahrung von Begriffen der Vergangenheit, auch von den falschen. Aber hier gibt es einen dritten Aspekt, die Funktion von Kultur besteht nicht nur darin aufzubewahren, sondern auch wegzuwerfen. Wenn wir alles erinnern würden, wären wir Idioten wie Funes.“

Erzählerin:
„Funes el memorioso“ heißt eine Erzählung von Borges. Funes ist eine Person, die alles, was sie sieht, hört, schmeckt, riecht, fühlt, denkt und träumt im Gedächtnis behält. Eine Art König Midas der Erinnerung, der nichts vergisst und deshalb nichts weiß, weil er sein Wissen in Erinnerung erstickt.

O-Ton Umberto Eco
Qual’è il problema con internet che è una immensa memoria che non filtra….

Zitator Eco:
„Es ist das Problem des Internet, dass es ein immenses Gedächtnis hat, ohne zu filtern. Und das wirft erzieherische Fragen auf. Wie kann ich zum Beispiel eine gemeinsame Basis eines Gespräches herstellen, wenn ich 80 Internetseiten finde, die das Problem des Holocaust auf die eine Art darstellen, und weitere 80, die das Problem, sagen wir wie die Nazis, auf eine andere Art ausbreiten? Da geht nichts mehr. Wie man mit dem Internet filtern könnte, ist eine Frage, auf die es keine sofortige Antwort gibt. Aber genau deshalb interessiert mich das Problem der Erinnerung, weil Funes zum ersten Mal nicht nur eine erzählerische Gestalt ist, sondern ein virtuelles Objekt, das wir jeden Tag vor uns haben und mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.“

Erzählerin:
Seit Mitte der achtziger Jahre veröffentlich Umberto Eco im römischen Wochenmagazin L’espresso eine Kolumne unter dem Titel „Bustina di Minerva“, auf Deutsch „Streichholzbriefe“. Der Titel bezieht sich auf kleine Streichholzhefte der Firma Minerva, auf deren Innenseite man nicht nur Namen, Adressen oder Telefonnummern notieren kann, sondern auch das, was einem gerade durch den Kopf geht, während man im Zug unterwegs ist, in der Bar oder im Restaurant sitzt oder in den Regalen einer Buchhandlung stöbert. Im Hanser Verlag ist gerade eine Auswahl von Ecos „Streichholzbriefen“ erschienen.

Zitator Eco:
„Ich gehöre zu denen, die der Ansicht sind, dass auch das wissenschaftliche Wissen die Form von Geschichten annehmen muss. Dieses Vorgehen scheint mir sehr instruktiv und sehr poetisch, es bringt das Universum der Phantasie, in dem man sich Welten vorstellt, um Geschichten zu erfinden, näher zum Universum der Wirklichkeit, in dem man Geschichten erfindet, um die Welt zu begreifen.“ (U.E.: Schüsse mit Empfangsbescheinigung – neue Streichholzbriefe. Hanser 2006)

O-Ton Umberto Eco
Ma io non racconto bugie al pubblico più vasto…

Zitator Eco:
„Dem großen Publikum erzähle ich keine Lügen, sondern gerade in diesen Fällen muss man die Dinge mit größtmöglichster Genauigkeit sagen. Wenn man in einem Streichholzbrief ein bestimmtes Problem auf 65 Zeilen abhandeln muss, dann ist man zur Vereinfachung gezwungen und muss einer Sache schnell auf den Grund kommen. Und das hilft auch bei einem Forschungsansatz. Man könnte meinen, dass ich meine wissenschaftliche Forschung für die Streichholzbriefe in einfache Worte übersetze. Nein, im Gegenteil! Ich übersetze die einfachen Worte der Streichholzbriefe in akademische Forschung.“

Stat rosa pristina nomine – der Wissenschaftler wird Literat

Musik (ev. Filmmusik Name der Rose)

Zitator Eco:
„Kalt ist’s im Skriptorium, der Daumen schmerzt mich. Ich gehe und hinterlasse dies Schreiben, ich weiß nicht für wen, ich weiß auch nicht mehr worüber: Stat rosa pristina nomine, nomine nuda tenemus.“ (U.E., Der Name der Rose. Hanser 1982)

Erzählerin:
„Stat rosa: Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur noch nackte Namen.“ Als Umberto Eco diese Sätze schrieb, wusste er noch nicht, dass er gerade einen Weltbestseller abgeschlossen hatte. Im Jahr 1980 erschien „Der Name der Rose“. Umberto Eco entpuppte sich gleichsam als ein intellektuelles Schnabeltier: ein strenger Wissenschaftler aber ebenfalls ein leichtschreibender Journalist, ein anerkannter Universitätslehrer und jetzt auch ein populärer Schriftsteller. „Der Name der Rose“ ist ein philosophischer Kriminalroman, der im Mittelalter angesiedelt ist und über unser heutiges Denken erzählt. Von dem Roman, der auf vielerlei Ebenen zu lesen ist, konnten bislang weltweit mehr als 25 Millionen Exemplare verkauft werden. Eco hat bis heute seine wissenschaftlichen Forschungen nicht aufgegeben, wie Bücher aus den achtziger und neunziger Jahren zeigen. Aber nach seinem grundsätzlichen Traktat „Semiotik – eine Theorie der Zeichen“ im Jahr 1975 schien sich ein Zyklus zu schließen. Und ein neuer begann, der des Autors erzählerischer Werke.

O-Ton Umberto Eco
Questa è una delle 25 spiegazioni che io do sempre quando mi chiedono…

Zitator Eco:
„Das ist eine von 25 Erklärungen, die ich auch immer gebe, wenn gefragt werde, warum ich angefangen habe, Romane zu schreiben. Und unter allen Erklärungen ist es die sinnvollste. Es war nicht so sehr der Traktat, vielleicht fehlten auch Herausforderungen. Aber die wirkliche Erklärung ist die 26. : weil ich Lust dazu hatte. Wenn sie morgen nach Ägypten fahren und ich frage sie warum, dann sagen sie auch nicht, weil sie Champollion gelesen haben, sondern weil sie Lust hatten, nach Ägypten zu fahren, sonst wäre die Reise nach Oslo gegangen.“

Erzählerin:
Mit „Der Name der Rose“ und seiner Reise ins Mittelalter beginnt auch eine andere Geschichte – die von Burkhart Kroeber und seiner Beschäftigung mit Umberto Eco

O-Ton Burkhart Kroeber
„Die hat angefangen, damit dass ich im Verlag – ich war damals Sachbuchlektor in dem Verlag, in dem er dann später auch erschienen ist, bei Hanser – zufällig der Einzige war, der des Italienischen mächtig war und deshalb das als erster gelesen hat, als es uns ins Haus geschickt wurde, mit der Aufforderung, ein Angebot zu machen. Und damals hat der Originalverlag das Buch bzw. die unkorrigierten Druckfahnen an mindestens sechs, wenn nicht acht oder zehn deutsche Verlage geschickt… Und dann war ich der erste, der es gelesen hat und dann hab ich mich dafür stark gemacht im Hause. Und als wir es dann sogar erworben hatten, als es gelungen war, dieses Werk gegen sechs andere Mitinteressenten bei Hanser unterzubringen, da habe ich dann gesagt, nun möchte ich es auch bitteschön selber übersetzen. Denn ich möchte nicht eines Tages der Kerl sein, der möglicherweise eine misslungene Übersetzung in Nachtarbeit reparieren muss und dafür noch von allen Seiten beschimpft wird. Und das wurde damals in der Euphorie, also in der Freude darüber, dass wir das jetzt erworben hatten, mir sozusagen einfach stante pede überlassen.“

O-Ton Renate Eco
Beim ersten Buch, das war Der Name der Rose, da habe ich dann bei der Übersetzung geholfen zu kontrollieren, und der Übersetzer, der inzwischen selbst berühmt geworden ist, der kam alle 200 Seiten nach Mailand, und hat sie meinem Mann vorgelegt, der das nicht lesen konnte, und das musste ich zum Teil rückübersetzen ins Italienische, um zu sehen, bei gewissen Stellen, ob das richtig übersetzt war. Das ist längst nicht mehr notwendig, denn damals kannten wir Burkhart noch nicht, heute verlässt man sich total darauf, was Burkhart macht. Das Kontrollieren von Übersetzungen hat aber mein Mann beibehalten, außer beim Deutschen, also da wo er es machen konnte und sich gewissen schwierige Passagen rückübersetzen lassen, um zu kapieren, ob sie verstanden waren.

O-Ton Burkhart Kroeber
Aber man kann fast so sagen, es wurde dann nach „Der Name der Rose“ von Buch zu Buch immer schwieriger. Das „Foucaultsche Pendel“ war schon deshalb für mich eine neue Herausforderung, weil man mit einem einzigen Duktus da nicht auskam, sondern da ist sowohl Gegenwartssprache, also realistisch Heutiges, wenn Sie so wollen bis hin zu Journalistischem, und aber auch wieder Reminiszenzen aus dem Mittelalter, aus der Zeit der Kreuzzüge und zum Teil noch weiter zurückgegriffen und dann noch in verschiedensten Welten sich bewegend. Das heißt das war ein polyglottes Buch und da musste man seine sprachlichen Mittel immer wieder neu werten. Das Schwierigste war aber dann tatsächlich das Dritte, „Die Insel des vorigen Tages“, der „Barock-Roman“ kann man sagen. Und ich weiß noch, als ich mit Eco darüber sprach, als er noch nicht ganz fertig war und ich fragte, wann wird das fertig? „Ja in einem viertel Jahr ist es so weit, bereite Dich schon mal vor, lies mal ein bisschen im Barock herum“, war sein Tipp. Da wurde mir schon etwas anders, da habe ich schon gedacht, Donnerwetter, das könnte schwierig werden. Und als ich dann sah, was er gemacht hatte, also nicht nur eine Geschichte im Barock zu situieren und ein Zeitbild des 17. Jahrhunderts zu geben, sondern auch sprachlich mit Mitteln zu arbeiten, die er teilweise aus Barockromanen abgekupfert hatte. Ich hatte ihn immer wieder auch gefragt, was ist das für ein Wort, das steht nirgendwo. Und dann sagte er: „Das weiß ich auch nicht so ganz genau, aber es ist authentisch, ich habe es aus einem Roman des 17. Jahrhundert abgeschrieben, es muss ein Fisch sein oder so etwas, ja, und mach daraus auch ein neues Wort.“ Also er verlangte von mir, dass ich Neologismen präge, und das in einem Duktus, der durchaus dem Barocken entspricht. Wobei man dazu sagen muss, die italienische und französische Barockliteratur ist natürlich von ihrem ganzen Kontext her anders konstituiert als die deutsche Barockliteratur, die entsprechen sich überhaupt nicht. Von der deutschen Barockliteratur kennt man im Wesentlichen den Simplicius Simplicissimus und einiges drum herum, und dann natürlich Lyrik. Aber erzählende Werke, eigentlich eher Parodistisches. Und bei Eco sollte es nicht parodistisch klingen, es war durchaus ernst gemeint, da wird sogar über den Tod abgehandelt. Kurz um, das hat mich am längsten Zeit gekostet und da habe ich immer wieder gedacht, ich mach’s so gut ich kann, ob es funktionieren wird, weiß der Teufel, das wird man dann sehen, aber ich muss jetzt da durch und brauchte dafür auch relativ lang.“

Atmo Lesung Loana

Erzählerin:
Umberto Eco, so kann man bei den leider sehr seltenen öffentlichen Lesungen erfahren, ist auch ein talentierter Interpret seiner eigenen Texte, wie hier bei seinem letzen Roman „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“. Das Buch handelt von dem etwa 70-jährigen Buchantiquar Yambo aus Mailand, der nach einem Schlaganfall sein autobiographisches aber nicht sein semantisches Gedächtnis verloren hat. Das heißt er hat nur noch „ein Gedächtnis aus Papier“ und kann sich nur an das erinnern, was er gelernt oder gelesen hat.
Eco las nicht nur mit seiner ausdrucksvollen Baritonstimme, er bewegte sich trotz mächtigen Bauchumfanges nicht nur tänzerisch in den Hüften, sondern sang auch zur Freude des Publikums die Lieder an, die dem Roman gleichsam als Resonanzboden unterlegt sind.

Atmo Lesung Loana

Erzählerin:
Den Höhepunkt erreichte der Abend als der Autor die Textstelle las, bei dem die Schatten eines Heiligen und eines Priesters sich vereinigen, und Eco zur bekannten Melodie von Norbert Schultze vortrug:

Atmo Lesung Loana:
Duae umbrae nobis una facta sunt, infra laternam stabimus, olim Lili Marleen, olim Lili Marleen…

Erzählerin:
Es gibt immer wieder Stimmen, die Umberto Eco vorwerfen, er würde seine Bestseller am Reißbrett konstruieren. Seine Romane seien vor allem Medienereignisse und keine sprachmächtige Literatur. Sein deutscher Verleger Michael Krüger, selbst Lyriker und Geschichtenerzähler, widerspricht:

O-Ton Michael Krüger
„Ich weiß nicht, wer über mehr Sprache verfügt als er. Man könnte aus allen Büchern Teile nennen, die doch in der Konstruktion in der sprachlichen Plastizität sozusagen alles andere in den Schatten stellen. Er ist einiges nicht, er ist nicht sentimental. Und Romanschriftsteller, die sonst beim Publikum ankommen, haben ja leicht etwas Sentimentales. Das heißt, ich kann mich sehr leicht identifizieren, wenn ich eine ähnliche Gemengelage in der eigenen Psyche habe. Das ist bei ihm weniger der Fall. Insofern ist er ein Autor, der es seinem Publikum überhaupt nicht leicht macht. Aber ich glaube, was die Leute an ihm lieben, ist, dass er es ihnen nicht leicht macht. Denn selbst diese „bustine“, die ich für besonders gelungen halte und gerade den letzten Band außerordentlich interessant finde, … auf der Oberfläche sind das kleine Kommentare in Zeitungen, die überall geschrieben werden. Ich glaube eben doch, dass bei ihm eine Tiefe erreicht wird und gerade durch seine Kenntnis, durch das Talent der sprachlichen Verknappung – das ist ja auch ein großes Talent – und durch viele andere seiner Merkmale seiner sprachlichen Umsetzung seines Problems. Nein, ich gehöre nicht zu denen, das sind Konstruktionen, die am Reißbrett erfunden sind, sondern ich denke immer, dieser große mächtige Mann aus Alessandria hat soviel von der Welt gesehen und einen großen Teil dieser Weltkenntnis mit in die Sätze hinüber rettet, sonst wäre es bei dem „Namen der Rose“
geblieben.“

Der kritische Intellektuelle

Musik

Zitator Eco:
„Jede Zeit hat ihre Mythen. Die Epoche, in der ich geboren wurde, hatte den Mythos vom Staatsmann, die, in der man heute geboren wird, hat den vom Fernsehstar. Mit der ihr üblichen kulturellen Blindheit hat die Linke eine Bemerkung Berlusconis – dass niemand die Zeitungen lese, während alle Fernsehen guckten – als neuste beleidigende Taktlosigkeit verstanden. Das war sie nicht, sie war zwar arrogant aber nicht dumm. Wenn man die Auflagen aller italienischen Zeitungen zusammenrechnet, kommt man auf eine lächerliche Zahl im Vergleich zu der Zahl der Personen, die ausschließlich Fernsehen gucken. Wenn man außerdem mitrechnet, dass nur noch ein Teil der italienischen Presse sich kritisch gegenüber der jetzigen Regierung zeigt, und dass das gesamte Fernsehen, RAI plus Mediaset, inzwischen mit der Stimme der Macht spricht, hat Berlusconi zweifellos Recht. Das Problem ist die Kontrolle über das Fernsehen, die Zeitungen können sagen, was sie wollen.“ (U.E., A passo di gambero. Bompiani 2006)

Erzählerin:
Wenn man im jüngsten Buch, das unter dem Titel „Im Krebsgang“ erschienen ist, die politischen und gesellschaftskritischen Artikel der vergangenen Jahre nachliest, kann man den Eindruck haben, dass es vor allem die Berlusconi-Regierung ist, die das öffentliche Engagement des Intellektuellen und Schriftstellers herausfordert.

O-Ton Umberto Eco
Lei ha questa impressione perché il mio libro ”Passo di gambero” raccolge tutti i saggi scritti negli ultimi cinque anni.

Zitator Eco:
„Mein Buch „Im Krebsgang“ versammelt die wichtigsten Arbeiten auf diesem Feld der vergangenen fünf Jahre. Aber wenn man sich andere Textsammlungen ansieht, dann wird man feststellen, dass sie sich natürlich auf die jeweilige Zeit beziehen. Mit meiner publizistischen Tätigkeit habe ich immer versucht, auf der Höhe der Zeitläufe zu bleiben. Da waren die Jahre des Terrorismus, davor die von 68 und so weiter. Jetzt handelt es sich um die Berlusconi-Jahre, da konnte es sich nur hauptsächlich um die Berlusconi-Regierung handeln. Außerdem war es eine moralische und zivile Pflicht, diesen Stand der Dinge zu kritisieren.“

Erzählerin:
Kurz nachdem sich die Berlusconi-Regierung im Frühjahr 2001 etabliert hatte, wurde ihr unverfrorener Umgang mit der Macht deutlich. Alle öffentlichen Ämter wurden mit regierungstreuen Leuten besetzt und kritische Stimmen aus dem staatlichen Fernsehen RAI verbannt. Eine riesige Propagandawelle rollte über das Land. Die parteipolitische Opposition schien hilflos gegenüber dem Populismus der Machthaber. Das Wort „Regime“ machte die Runde. In Mailand gründeten Geisteswissenschaftler und Schriftsteller wie Umberto Eco oder Claudio Magris zusammen mit Naturwissenschaftlern, Wirtschaftsfachleuten und Journalisten die Vereinigung „Libertà e Giustizia“, „Freiheit und Gerechtigkeit“, die sich in der Tradition der liberalen antifaschistischen Widerstandsgruppe „Giustizia e Libertà“ aus der Zeit der Resistenza sieht, an deren Name sie anknüpft.

O-Ton Umberto Eco
Un bisogno di mobilitazione quello che si chiama la società civile… Ma sulla storia del regime per chiarire.

Zitator Eco:
„Es war ein Akt der Mobilisierung dessen, was man Zivilgesellschaft nennt. Aber was das Regime angeht, möchte ich etwas klar stellen. Immer wenn man in Italien das Wort Regime hört, denkt man an das faschistische Regime. Also sagte ich nein, die Regierung Berlusconi ist nicht faschistisch. Sie war in der Tat nicht faschistisch. Aber ich erläutere in meinem Buch, wie man den Begriff Regime für eine bestimmte Regierungsform gebraucht. Demokratisches Regime, totalitäres Regime und so weiter. Und das von Berlusconi errichtete war eine Regierungsform, die sich auf Populismus gründete, die an das Volk über die Instrumente der Massenmedien appellierte und damit das Parlament umging. Daher meine Analyse der Besonderheit des Berlusconi-Regimes, die ich einen Medien-Populismus genannt habe.“

Atmo Wahlveranstaltung

Erzählerin:
Diskussionsveranstaltung der „Libertà e Giustizia“ kurz vor den Aprilwahlen 2006, in denen dann Berlusconi seine Mehrheit ganz knapp verlieren sollte. Auf der Bühne stehen neben Spitzenpolitikern wie Piero Fassino von den Linksdemokraten Umberto Eco und Furio Colombo. Umberto Eco warnt seine Zuhörer

O-Ton Umberto Eco
Io voglio dire ragazzi, non eccitativi troppo…

Zitator Eco:
„Kinder, seid bitte nicht zu fröhlich aufgeregt. Es ist nicht gesagt, dass wir gewonnen haben. Es ist besser, einen gesunden Pessimismus zu behalten und bis zum Schluss zu kämpfen. Vor fünf Jahren ist ein Phänomen eingetreten, durch das unser Land kulturell, politisch und wirtschaftlich auf ein Dritte-Welt-Niveau gesunken ist. Sollten sich in einem Monat weitere fünf Jahre dieser Art ankündigen, sind wir geliefert.“

Die Gretchenfrage

Erzählerin:
Furio Colombo und Umberto Eco haben sich seit den Turiner Studienjahren und den gemeinsamen Anfängen bei der RAI in Mailand nie ganz aus den Augen verloren.

O-Ton Furio Colombo
Il nostro impegno era di due tipi. Il nostro modo di essere di sinistra non aveva legami con il partito comunista…

Zitator Colombo:
„Unser Engagement speiste sich vor allem aus zwei Quellen. Unser Linkssein hatte keine Beziehungen zur kommunistischen Partei, die damals so stark und prägend war für das kulturelle Leben in Italien. Auf der anderen Seite waren wir eindeutig Antifaschisten, was für das Leben in Turin ganz entscheidend war. Das hat mit der Zeit einen Weg vorgezeichnet, den wir im großen und ganzen bis heute nicht verlassen haben: wir haben keine Bezugspartei, pflegen mit niemandem Freundschaft, schon gar nicht mit der herrschenden Partei Italiens, der Democrazia Cristiana. Eco kam aus der katholischen Bewegung, aber das half ihm die Scheinheiligkeit zu erkennen, in der sich die sogenannte Religiösität dieser Partei erschöpfte.“

O-Ton Renate Eco
„Die Religion ist, wenn man da gräbt, ganz bestimmt stark prägend für den Charakter meines Mannes, der kommt aus einer religiösen Erziehung, genau wie ich, und das war das Gemeinsame, das war auch eine gemeinsame Rigorosität, die uns verband. Er als tätiger junger Katholik, ich als tätige junge Protestantin, das hat dann aber verhältnismäßig früh dann aufgehört, er war noch in der Azione Cattolica, diese beiden Sachen haben eher verbunden, sehr verbunden in einer laizistischen Gesellschaft hier in Mailand.“

Erzählerin:
Was Renate Eco nicht wusste:

O-Ton Umberto Eco
U: Mia madre era preoccupata dal fatto che lei era protestante. Dice: sposi una protestante.
R: Questo non lo sapevo

Zitator Eco:
„Meine Mutter machte sich sorgen, weil Renate eine Protestantin war. Sie sagte: Du heiratest eine Protestantin! Nicht dass sie deutsch, sondern dass sie protestantisch war, schien ein Problem. Sie hätte ruhig eine Japanerin sein können, aber eine Protestantin, das war merkwürdig.“

Erzählerin:
Religion spielt in Italien immer noch eine Rolle, sogar wenn es wie jetzt darum geht, eine große Partei der linken Mitte zu formen, die alle Reformkräfte in sich aufnimmt. Eine Partei der Demokraten, die aus der Tradition des antifaschistischen Widerstandes kommt, in dem sich katholische und laizistische Kräfte, also sozialistische, kommunistische und liberale zusammengefunden haben. Eine Persönlichkeit wie Umberto Eco, der sich dieser Tradition verpflichtet fühlt, gleichzeitig aber immer eine Distanz zu den politischen Parteien bewahrt hat, könnte als eine Art Garant der neuen Gruppierung auftreten. Jedenfalls wird sein Name in den Medien immer häufiger genannt. Zur öffentlichen Rolle des Intellektuellen schreibt er einem „Streichholzbrief“ :

Zitator Eco:
Sokrates erfüllt seine Rolle, indem er die Stadt kritisiert, in der er lebt, und dann akzeptiert er sein Todesurteil, um die Achtung vor den Gesetzen zu lehren. Ich weiß nicht, ob er ein Sokrates ist, aber der Intellektuelle, an den ich denke, hat noch eine andere Pflicht, wenn wir annehmen wollen, dass er zu einer Gruppe gehört: Er muss nicht gegen die Feinde seiner Gruppe reden (das ist die Sache des Pressebüros), sondern gegen die eigenen Freunde. Er muss das kritische Gewissen seiner Gruppe sein. Ihr auf die Nerven gehen. In den radikalsten Fällen, wenn die Gruppe durch eine Revolution an die Macht kommt, ist der unbequeme Intellektuelle der erste, der guillotiniert oder erschossen wird. Ich glaube nicht, dass alle Intellektuellen so weit zu gelangen wünschen, aber sie müssen die Idee akzeptieren, dass die Gruppe, der anzugehören sie sich in gewisser Weise entschlossen haben, sie nicht allzu sehr liebt. Tut sie es doch und werden sie gar gehätschelt, dann sind sie schlimmer als organische Intellektuelle, dann sind sie Intellektuelle des Regimes.“ (U.E: Schüsse mit Empfangsbeschreibungen, Hanser 2006)

Öffentlich und privat

Musik

Zitator Eco:
„Anlässlich meines Geburtstages habe ich Anfang des Monats bei einer Feier in einem intimen Kreis versucht, den Tag wachzurufen, an dem ich auf die Welt gekommen bin. Auch wenn ich ein gutes Gedächtnis besitze, kann ich mich an diesen Moment nicht erinnern. Ich habe ihn jedoch nach den Erzählungen meiner Eltern rekonstruieren können. Als der Arzt, der mich aus dem Schoß meiner Mutter herausgeholt hat, ihr das bewundernswerte Ergebnis ihrer Wehen präsentierte, soll er ausgerufen haben: „Sehen Sie sich die Augen an, wie der Duce!“ Meine Familie war nicht faschistisch, sie war auch nicht antifaschistisch – wie so viele im italienischen Kleinbürgertum nahm sie die Diktatur wie ein meteorologisches Ereignis hin; wenn es regnet, muss man einen Schirm aufspannen, wenn man nach draußen geht -, aber es war sicherlich ein bewegender Augenblick für einen Vater und Mutter, als sie hörten, dass der Neugeborene die Augen des Duce habe. Nun bin ich mit den Jahren skeptisch geworden, und ich glaube, dass der gute Arzt damals allen Eltern wohl das selbe sagte. Wenn ich heute in den Spiegel blicke, dann entdecke ich in mir eher eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Grizzly als mit dem Duce, aber das ist nicht so wichtig. Die Meinen waren glücklich zu hören, dass ich dem Duce ähnelte. Ich frage mich, welche Schmeichelei ein Arzt heute einer Wöchnerin sagen würde. Dass das Produkt ihrer Schwangerschaft Berlusconi ähneln würde? Sie würde sofort in einen beängstigt depressiven Zustand versinken. Dann schon eher so, wie die Stars, die wir vom Bildschirm kennen.“ (U.E., Passo di gambero. Bompiani 2006)

Erzählerin:
Öffentlich und privat, es war für die Familie nicht immer leicht, einen intellektuellen Mann und berühmten Vater zu haben. Für die Erziehung der beiden Kinder, den Sohn und die Tochter, die inzwischen längst erwachsen sind und selber Kinder haben, war natürlich die Mutter zuständig.

O-Ton Renate Eco
„Das musste ich leider sein, denn er war nicht da. Er war einfach nicht da, er war sonst auch nicht da, er saß in seinem Zimmer. Meistens hat er akzeptiert, was ich entschied und manchmal vielleicht auch aus Bequemlichkeit. Zum Beispiel habe ich entschieden, dass die Kinder auf die deutsche Schule gehen, dass sie dort bleiben, dass der Sohn dort Abitur macht, da hätte ich mir manchmal schon mehr Einfluss meines Mannes gewünscht.“

O-Ton Umberto Eco
Si pagan certi prezzi..

Zitator Eco:
„Was die Bekanntheit angeht, das muss man bezahlen. Man geht nicht in Theaterpremieren und zu bestimmten Veranstaltungen, weil immer Journalisten da sind. Man lebt mehr mit Freunden.“

O-Ton Renate Eco
„Ja auf einen Lebensstil verzichten, das muss ich auch heute noch, aber das ist sehr viel leichter geworden mit dem Alter. Besonders was den Freundeskreis anbelangt, da habe ich natürlich ausgelesen…. Es liegt mir nicht viel daran in der Öffentlichkeit zu leben, zum Beispiel mag ich nicht so gern Interviews, aber die Vorsicht, mit der man sich bewegen muss…. Nichts öffentlich zu deklarieren, damit es nicht gleich weiter getragen wird, die ist recht lästig. Man kann nicht so spontan sein, wie man eigentlich von Haus sein möchte. Und was die Kinder anbetrifft, die haben sehr darunter gelitten, dass sie immer als Eco betrachtet wurden und das Entsprechendes von ihnen erwartet wurde. Vielleicht hatten sie da manchmal auch Vorteile, aber für sie überwiegen die Nachteile. Weil man genau wie bei mir beim Deutschsein wird man in ein Klischee gezwängt, und die wurden in das Klischee Eco gezwängt. Aber richtig. Sie haben sich nicht interviewen lassen, als Kinder von berühmten Leuten, da standen immer mal unten Journalisten vor der Tür und haben sie abgefangen, weil wir am Telefon gesagt hatten, nein das interessiere uns nicht, dann haben sie unten gestanden und sie interviewen wollen, so etwas kam schon vor… es ist furchtbar, was da so über die Bühne ging.“

O-Ton Umberto Eco
Ci sono delle comodità certamente. Ti possono arrivare i biglietti gratis per il teatro. La notorietà dà noia…

Zitator Eco:
„Sicher, es gibt auch Vorteile. Manchmal kommen gratis Theaterkarten ins Haus. Aber im Allgemeinen ist Bekanntheit eine Last. Mir passiert etwas Merkwürdiges. Wenn ich im Zug angesprochen werde, finde ich das lästig. Überhaupt stört es mich, wo ich auch immer bin. Mit einer Ausnahme: Paris. Denn nach Paris ging ich als Zwanzigjähriger und dort sah im Café Flore diesen oder jenen Schriftsteller sitzen. Wenn ich jetzt im Café Flore sitze, fühle ich mich wie als Zwanzigjähriger, nur bin ich auf der anderen Seite der Barrikade. Das ist der einzige Platz, wo es mir wohl tut, erkannt zu werden. Nicht in New York, nicht in Berlin, sondern in Paris.“

O-Ton Inge Feltrinelli
„Er ist manchmal ein sehr melancholischer Mensch. Er braucht Publikum, zwei drei Leute langweilen ihn eigentlich, ab zehn Personen ist er glücklich, wenn er Publikum hat. Er ist ein ziemlich introvertierter und glaube ich auch ein sehr melancholischer Mensch. Er spricht nicht viel, er sitzt und denkt. Aber sobald er eine Party, schöne Frauen sieht, ist er völlig aufgekratzt und lustig, redet über alles von der Politik, Weltpolitik, italienische Politik, Semiotik, es gibt kein Thema, was ihn nicht interessiert. Und es ist wundervoll, er ist ein unermüdlicher Arbeiter. Ich erinnere mich, letztes Mal als er bei mir war, das war glaube ich nachts um zwei, sagte er „Ach ja, jetzt muss ich arbeiten,“ Bist Du verrückt Umberto, jetzt um diese Zeit, „Nein ich muss einen Artikel für morgen früh im sieben für Le Monde schreiben.“ In Französisch? „Ja in Französisch“. So ist er und er schafft das auch.“

Erzählerin:
Inge Feltrinelli – und Michael Krüger:

O-Ton Michael Krüger
„Ich finde ihn sehr umgänglich, wenn man bei ihm zu Hause ist. Und noch umgänglicher ist er, wenn man bei ihm wohnt. Denn er geht gerne auf Märkte, er geht gerne in Antiquariate. Er isst gerne, er trinkt gerne, er erzählt gerne Witze. Da ist er ein wunderbar umgänglicher Mensch. Ich war zwei Mal zu Gast bei ihm in seinem Institut in Bologna, da ist er der liebenswerte Professor, den man sich vorstellen kann. Aber bei seiner Arbeitsleistung, die ja vollkommen ungebrochen ist, muss er auch seine schroffen Seiten haben, um sich gegen die Zumutungen der Welt zu schützen. Wenn man heute in 60 Sprachen übersetzt wird und jeder möchte ihn haben, jeder möchte einen Teil von ihm haben, denn das gehört ja heute zu einem Autor, dass auch das Ausland einen Teil von ihm haben will, nicht nur das Originalland. Wir wollen ihn ja auch hier haben, wenn er ein neues Buch geschrieben hat. Dass das an seinen Nerven zehrt, dass er merkt, ich kann mich nicht teilen, ich bin ein solcher Energieproppen,… wenn dieser Mensch, dann hier auftritt, dann bin ich immer vollkommen verblüfft, er macht 15 Interviews hintereinander, er ist immer originell, immer höflich, immer witzig. Aber wenn dann das Mikro aus ist, dann sehe ich an seinem Gesicht, dass er einen insgeheim mächtig verflucht.“

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Musik

Atmo Eco Bibliothek
Qui prima edizione di Ulisse, prima edizione dei Promessi sposi, i libri che piacciono a me. Ho la prima edizione di Cyrano de Bergerac, ho la prima edizione di Sylvie, poi la prima edizione di…

Erzählerin:
Der Rundgang durch die Bibliothek geht zu Ende. Der Besitzer zeigt stolz Erstausgaben von Joyce „Ulysses“, Manzoni „I Promessi sposi“, Rostand „Cyrano de Bergerac“ oder Nerval „Sylvie“. Das sind die Bücher, die Umberto Eco gefallen. Und im Raum mit den bibliophilen Ausgaben, den wertvollen Inkunabeln und den Werken weit zurück liegender Jahrhunderte wie den Athanasius Kircher, sieht man Holzflöten auf dem Tisch neben dem Laptop liegen.

Atmo Eco
Questo sono i flauti. Suono sempre meno, chissà perché, due anni che non suono più… non lo so… chissà perché… perché ho smesso di fumare, dovrei avere più fiato…

Zitator Eco:
„Und hier liegen die Flöten. Ich spiele jetzt immer weniger, seit zwei Jahren spiele ich nicht mehr regelmäßig… wer weiß warum… Ich habe aufgehört zu rauchen und müsste eigentlich mehr Luft haben, aber ich habe irgendwie keine Lust mehr… aber, wenn Freunde kommen, dann machen wir noch ein bisschen Jazz, das kriege ich noch hin.“

Musik und Abblende

E N D E