„ERST WENN DU TAG FÜR TAG DORT LEBST, SPÜRST DU ALL IHREN ZAUBER“


Das Buch „Henry James in Venedig“ und ein Gespräch mit Hanns-Josef Ortheil, der die Texte von James mit einem mehrteiligen Essay begleitet hat

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„Weiches Schillern“ – Blick auf San Giorgio Maggiore

Venedig – Der Winter ist eine gute Jahreszeit, um die Lagunenstadt zu besuchen. Noch hat der Tourismus sie nicht so entstellend im Griff, wie zwischen Frühling und Herbst. Man kann Spuren nachgehen, die etwa ein Henry James (1843 – 1916) gelegt hat. Der amerikanische Autor reiste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Male nach Venedig. Er dachte zeitweilig sogar daran, sich hier ganz niederzulassen. Wie er sich in kleinen Essays und Reiseberichten mit der Stadt auseinander gesetzt hat, ist in dem Band In Venedig nachzulesen, der in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung (Mainz) erschienen ist. Der Stuttgarter Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat darin über einen begleitenden Essay gleichsam den Dialog mit James wie mit dem Leser gesucht. In einem Gespräch mit Hanns-Josef Ortheil ließen sich Eindrücke von der Lektüre des Buches vertiefen. Das Gespräch fand Mitte Dezember 2016 im Deutschen Studienzentrum Venedig (*) statt.

Das Licht als mächtiger Zauberer

Henry James reiste 1869 zum ersten Mal nach Venedig. Der damals 26jährige Schriftsteller stammte aus einer wohlhabenden New Yorker Familie, was ihm zeitlebens ein Auskommen ohne finanzielle Sorgen ermöglichen sollte. Früh kam er mit der europäischen Kultur in Berührung und studierte Literatur unter anderem in London, Paris, Bonn und Bologna. Seinen Lebensmittelpunkt fand er später in London. Jedoch keine andere Stadt hat ihn so angezogen, wie Venedig. In dem Essay „Venedig: Ein früher Eindruck“ schreibt er:

„Tatsächlich ist das Licht hier ein mächtiger Zauberer, und ist selber, bei allem Respekt für Tizian, Veronese und Tintoretto, der größte Künstler von allen. Man sollte sich vor Ort ansehen, mit welchen Materialien es dabei umgeht: schlammige Ziegel, abgenutzter und besudelter Marmor, Lumpenfetzen, Dreck, Verfall. Es ist, als begegneten sich da Meer und Himmel auf halbem Weg und ihre Tönungen verschmölzen zu einem weichen Schillern, einer glänzenden Verbindung aus Wellen und Wolken und hunderten einzelner, unerklärlicher Widerscheine, und als würfen sie dann dieses ganze helle Gewebe über alle sichtbaren Gegenstände.“ (S. 51/52)

Henry James schrieb bis zu seinem Tod im Alter von 72 Jahren 1916 in London fast zwei Dutzend Romane, über einhundert Novellen, dazu Dramen, Reisebücher und Kritiken. Einige seiner erzählerischen Texte sind in Italien und besonders in Venedig angesiedelt. Darunter etwa der Romane „Die Flügel der Taube“ oder die Erzählung „Die Aspern-Schriften“, das vielleicht bekannteste Buch von James in einer deutschen Übersetzung.

Porträts der Stadt und unglaublich schöne Texte

Hanns-Josef Ortheil ist ein begeisterter Leser der Arbeiten von Henry James. Der 65jährige Schriftsteller und Literaturwissenschaftler hat selbst längere Zeit in Italien, vor allem in Rom gelebt. Er fragte sich, „James wird doch auch Venedig gekannt haben, gibt es denn keine Dokumente, in denen er nicht erzählerisch, sondern essayistisch geschrieben hat?“

Hanns-Josef Ortheil: „Und dann ist mir die Sammlung der ‚Italian Hours’, also diese Essaysammlung in die Hand gefallen. Und dann sah ich, in der Tat, es gab fünf große Essays über Venedig, und ich sah dann in einem weiteren Schritt, dass diese Essays seltsamer Weise nicht ins Deutsche übersetzt waren, obwohl sie ganz bedeutende Porträts der Stadt sind und für das späte 19. Jahrhundert unglaublich schöne Texte, die immer auf andere Weise Venedig erkunden.“

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Hanns-Josef Ortheil bei einer Lesung im Deutschen Studienzentrum Venedig

Helmut Moysich hat jetzt die Texte der „Italian Hours“, die Venedig betreffen, übersetzt. Und Hanns-Josef Ortheil dazu den mehrteiligen Essay „Henry James in Venedig“ geschrieben, wobei er sich auch auf die umfangreiche Korrespondenz des Amerikaners stützte und vielen Spuren im literarischen Werk von James nachging. So ist für die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz ein wunderschönes kleines Buch entstanden.

Es enthält Kartenmaterial, so dass man wie mit einem Reiseführer einer anderen Epoche die in den Texten erwähnten Objekte und Orte Venedigs auch im Heute wiederfinden kann. Das liebevoll mit alten Zeichnungen und historischen Fotografien aufgemachte Buch lebt davon, dass die Texte von James und Ortheil sich abwechseln, gleichsam Hand in Hand gehen. Und der Leser so schrittweise miterleben kann, wie Henry James sich die Stadt, die er über Jahrzehnte hinweg immer wieder besuchte, schreibend erarbeitete.

Annäherung an die Stadt als Person

Ortheil: „Ich glaube, das Eigentlich seiner Annäherungen an Venedig ist vielleicht ein Vergleich mit einer  Annäherung an eine Person. Die Stadt erscheint ihm wie eine Gestalt, der er sich nähert und um deren Liebe er wirklich wirbt und kämpft. Das ist ein Organismus, ein großer Organismus, dessen verschiedene Teile er langsam und einzeln studiert und später für sich zusammen setzt. Also er ist genau das Gegenteil des klassischen Touristen oder des kurzen Venedig-Besuchers, sondern er ist wirklich jemand, dem es gelingen will, die Stadt zu bewohnen und, obwohl er ein Fremder ist, von innen her zu verstehen.“

Venezianische Nachstimmung

Venezianische Nachtstimmung

Als Henry James nach Venedig kommt, löst sich die Stadt, die seit 1866 zum jungen Königreich Italien gehört, erst langsam von einer langen Zeit des Fremdherrschaft und des Niedergangs. Um Venedig zu verstehen, nutzt James Bücher wie die berühmte Beschreibung der Kunstschätze, die John Ruskin Mitte des Jahrhunderts unter dem Titel „The Stones of Venice“ veröffentlicht hatte (siehe auf Cluverius „Die Steine von Venedig“). Oder die Aufzeichnungen über das „Leben in Venedig“ seines Freundes William Howells, der von 1861 bis 1865 als amerikanischer Konsul an der Lagune gelebt hatte. Es entwickelt sich eine enge Beziehung zur Stadt, die jedoch nicht frei ist von Konflikten. Denn der Tourismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dabei, Venedig bereits in die Stadt zu verwandeln, wie wir sie heute leider kennen.

„Vom ersten Moment deiner Ankunft an wirst du daran erinnert, dass Venedig als Stadt eigentlich überhaupt nicht mehr existiert, sondern allenfalls noch als heruntergekommener Schaukasten und Basar. Auf der Piazza lagerte eine Horde wilder Deutscher, deren Lärmen dann den gesamten Dogenpalast und die Accademia durchhallte. Etwas später folgten die Engländer und Amerikaner, zusammen mit einem Haufen Franzosen, die diskret genug gewesen waren, im Caffè Quadri lange Mahlzeiten zu halten, während deren sie schon mal aus dem Weg waren.“ (S.96)

Klagen über den Einbruch der Moderne

Ortheil: „Er ist genau zur richtigen Zeit eigentlich hier, zu der Zeit, in der Venedig sich in den heutigen Zustand verändert. Die schöne Stadt des 18. Jahrhunderts mit ihren großen Festen, die Goethe erlebt hat, ist sie nicht mehr, sondern es ist jetzt diese Stadt, die Massentourismus vertragen muss. Und er ärgert sich entsetzlich, wenn er so viele Menschen auf der Riva degli Schiavoni sieht, die ihm immer im Weg sind und er die Bilder nicht richtig in Ruhe anschauen kann, die er sehen will.“

James verschweigt seinen Ärger über diese dramatischen Auflösungserscheinungen nicht. Über den Lärm, der mit den Vaporetti, den Dampfbooten auf dem Canal Grande in eine Stadt einzieht, die bislang für ihre Stille bekannt war. Doch werden diese Klagen über den Einbruch der Moderne immer wieder von einem „Aber“ oder „Dennoch“ überstimmt. Es ist, so kommentiert auch Ortheil, als könne und dürfe man Venedig in keiner Weise gram sein. Auf diese Art narkotisiere James „sein Leiden an der Stadt zugunsten der Feier ihrer einzigartigen Schönheiten.“ Dazu gehören die alten Paläste aus Mittelalter und Renaissance, aber auch abgelegene stille Plätze oder das stundenlange Gleiten in einer Gondel durch die Kanäle.

„Erst wenn du Tag für Tag dort lebst, dich ganz von den Köstlichkeiten dieser Stadt durchdringen lässt, spürst du all ihren Zauber. (…) Der Ort scheint einen eigenen Körper anzunehmen, menschlich zu empfinden und deine Zuneigungen zu spüren. Du willst ihn umarmen, ihn liebkosen, ihn besitzen.“ (S.95)

Ein gastliches Haus am Canal Grande

So sehr besitzen, dass er mehrfach ernsthaft daran denkt, sich hier ganz niederzulassen. Ein Motiv, das in seinen Schriften immer wieder auftaucht. Und er sucht die Nähe zu amerikanischen Mitbürgern, zu Frauen zumal wie die Dichterin Katherine Bronson, die zusammen mit einer Tochter ein gastliches Haus führt, wo James mehrfach bei seinen Aufenthalten wohnt.

Ortheil: „Er hat immer ganz intensive Beziehungen zu Amerikanern, reichen Amerikanerinnen, die zum Teil auch eben selbst geschrieben haben, die also Schriftstellerinnen waren, und von da aus auch enge Beziehungen zu seiner Arbeit hatten. Die ja zum Teil auch schon Jahrzehnte in Venedig waren wie die Bronson, die so etwas wie die „Mutter“ der amerikanischen Gesellschaft in Venedig war. Die alle Amerikaner, die interessiert waren, mit betreute und Zugänge zur Stadt ebnete und Kontakte herstellte.“

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Hanns-Josef Ortheil (rechts) und Henning Klüver

Es waren auch Amerikaner, die Hanns-Josef Ortheil rund einhundert Jahre später einen ersten Zugang zur Lagunenstadt ebneten.

Ortheil: „Ich kenne Venedig seit dem 15. April 1971. Das weiß ich ganz genau, weil ich an diesem Tag in Venedig angekommen bin als junger Mann, und an diesem Tag wurde in Venedig Igor Strawinsky begraben. Und zwar in der Kirche Santi Giovanni e Paolo war das Totenamt, und ich erlebte das damals mit. Damals war in Giovanni e Paolo auch noch die Pracht der amerikanischen Schriftsteller mit versammelt, zum Beispiel Ezra Pound war da, oder jemand wie Leonard Bernstein war da, also die Amerikaner, die ja Venedig unbändig geliebt haben, waren hier.“

Die amerikanische Perspektive

Amerikanische Autoren lieferten dann dem jungen Deutschen einen Schlüssel zur Stadt. Er las ihre Texte historisch gleichsam rückwärts, von Hemingways „Über den Fluss und in die Wälder“ aus den 1950er Jahren bis schließlich zu Henry James, William Howells und den Autoren des späten 19. Jahrhunderts. In diesen Texten fand er eine Venedigperspektive, die ihm gefiel.

Ortheil: „Weil sie immer so prosaisch ist. Und nicht nur so verzückt ist wie viele zum Beispiel deutschen Venedigbesucher im 19. Jahrhundert, Rainer Maria Rilke, August von Platen, die einfach immer nur in Gedichten Venedig besungen haben und zum Teil doch in einer ziemlich klischeehaften Weise. Das hat mir nicht so sehr gefallen, wie diese etwas realistischeren und pragmatischeren Amerikaner, die wissen wollten, wie funktioniert die Stadt, was machen ihre Bewohner von Tag zu Tag. Die sind dem Ganzen so auch von der realen Seite auf den Weg gekommen und sind eigentlich nie in diesem klassischen Sinne, wie wir das so kennen, romantisch geworden. Und deswegen bin ich ein Anhänger der amerikanischen Venedigperspektive.“

Ein Tod, der alles ändert

Der Freitod einer Dichterfreundin ausgerechnet in Venedig lässt Henry James schließlich davor zurückschrecken, sich ganz dieser Stadt hinzugeben. In Florenz hatte er die nur wenig ältere Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson kennen gelernt. 1893 reist sie nach Venedig, kauft sich dort eine Wohnung und fordert ihren Freund auf, zu ihr zu ziehen. Doch bevor es dazu kommt, stürzt sie sich, von Depressionen geplagt, aus dem Fenster des obersten Stockwerkes ihres venezianischen Hauses.

Ortheil: „Und dieses Ereignis war wohl so stark, dass er dann doch davor zurückgeschreckt ist, in den letzten Jahren ganz nach Venedig für einige Zeit zu übersiedeln.“

In London hatte Henry James die Schriftsteller seiner Zeit um sich. Paris, das er immer wieder besuchte, bot ihm Zugang zur Kultur des modernen Europa.

Ortheil: „In Venedig hatte er ja niemanden um sich außer diesen sehr belesenen und klugen Damen. Er hatte nicht das aktuelle, moderne Europa um sich, sondern eher die Kontakte mit dem alten Europa, die waren ihm in Venedig wichtiger. Kontakte mit der alten europäischen Kultur. Und das war sozusagen das dritte Ziel seines Lebens, das dann nicht wie die anderen beiden Ziele zu einem dauerhaften geworden ist, sondern wirklich so offen geblieben ist.“

In seinem letzten Venedigessay „Zwei alte Häuser und drei junge Frauen“ schreibt Henry James im Jahr 1901 über eine Veranstaltung in einem „hohen, historischen Haus, in dem eine derartige Masse von Vergangenheit aufgehoben war, die einem selbst noch aus unzähligen Kerzen entgegenglitzerte“:

„Bei solchen Anlässen kommt man in den vollständigen Genuss aller alten Stimmen, Echos, Bilder – eben jener Grundzüge der Geschichte Venedigs, welche ganz Europa repräsentieren, als hätte dies ganze Europa zu der einen oder anderen Zeit dort gefeiert oder gerastet, nach Vergnügen oder Geduld verlangt; und das macht diesen Ort in unseren Augen zur herausragenden Heimstätte unendlicher, seltsamer Geheimnisse, zerstörter Schicksale und gebrochener Herzen.“ (S.242)

Henry James: In Venedig. Aus den Italian Hours übersetzt von Helmut Moysich. Mit dem begleitenden Essay „Henry James in Venedig“ von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz. 288 Seiten, 24 Euro

Einen Beitrag über „Henry James in Venedig“ konnte man auch in der Sendung „Büchermarkt“ des Deutschlandfunks am 10. Februar 2017 hören

(*) Das Deutsche Studienzentrum Venedig ist eine vornehmlich vom Amt der Staatsministerin für Kultur und Medien getragenen Einrichtung. Vorbildlich gelingt es dem Studienzentrum seit 1972, Forschung mit kulturellem Austausch zu verbinden. Zugleich ermöglicht es deutschen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern Arbeitsaufenthalte an der Lagune.