Biennale (1): Die 16. Architekturbiennale von Venedig plädiert für ein neues Denken beim Bauen und Planen unsere Städte und Landschaften
Venedig (Giardini/Arsenale bis 25.11.2018) – Was ist mit der Architektur los? Jahrzehntelang sprachen Urbanisten und Architekten vom Verdichten, davon dass Freiraum Stadtraum schaffen solle. Und jetzt heißt es auf einmal, dass Stadtraum Freiraum brauche. Bürger, wie zuletzt in Mainz bei der Abstimmung über den Bibelturm, stehen gegen Großprojekte auf, die ihre Städte verengen und umdeuten würden. Man fordert mehr Licht, Luft, Durchlässigkeit. In den Gesellschaften des Westens, so will es auch der Rechtspopulist Matteo Salvini, der neue (laut)starke Mann Italiens wissen, revoltiere „das Volk gegen die Eliten.“ Müssen sich jetzt auch Architekten vor dem Volk in Acht nehmen, droht eine Popularisierung unserer Stadtlandschaften?
So weit ist es wohl noch nicht, aber die Fachschaft nimmt die Stimmung der Zeit auf. Man diskutiert, reflektiert und setzt neue Ideen in die Welt. „Freespace“ heißt das Motto der 16. internationalen Architekturbiennale in Venedig. Ein schillernder Begriff, den man mit „Freiraum“, „öffentlicher Raum“ oder einfach nur mit „Leere“ übersetzen kann. Ihn haben die Kuratorinnen der diesjährigen Biennale Yvonne Farrell (67) und Shelley McNamara (66) gewählt, die in Dublin das Studio Grafton Architects betreiben. Zu den Arbeiten der beiden Irinnen gehören vor allem Bauten von Bildungseinrichtungen wie in Mailand, Toulouse oder London. 2012 wurden sie mit einem goldenen Löwen für ihr Projekt eines neuen Campus der Universität Lima (Peru) ausgezeichnet.
Sorge um einen zerbrechlichen Planeten
Zur Vorbereitung der Biennale 2018 haben sie ein Manifest zum Thema „Freespace“ verfasst. Freespace, so heißt es, „lädt ein, unser Denkweisen zu überprüfen.“ Es gehe darum, „neue Lösungen zu finden, mit denen die Architektur für das Wohlergehen und die Würde jedes Bewohners diese zerbrechlichen Planeten Sorge trägt.“ Schließlich sei der Globus „unser Klient“, dem wir Respekt zeugen müssten.
Zum Glück trumpft die Biennale von Farrell & McNamara nicht großspurig ökohuman auf. Die tastende Suche nach dem Neuen und Anderen zeigt sich bescheiden, in vielem unspektakulär, das aber macht sie zugleich überzeugend. Wir üblich gliedert sich die größte Architekturschau der Welt in mehrere Teile: die von den Kuratorinnen und Mitarbeitern selbst zusammengestellte Ausstellung, die Länderpavillons und die Nebenveranstaltungen, zu denen etwa ein Beitrag von Katalonien zählt, das mit dem spanischen Pavillon nichts zu tun haben möchte.
An der Schwelle von Innen und Außen
Die Auswahl der Kuratorinnen (mit über 70 eingeladenen Teilnehmern) ist wiederum zweigeteilt: Im Padiglione Centrale, dem Hauptgebäude der Giardini, geht es oft um die Beziehungen von Innen und Außen und die Übergangsrolle der Schwelle, der Fassade etwa. Das zeigt sich in dem neuen Sitz der Bremer Landesbank, einem Entwurf des britischen Studio Caruso St John. Das Thema wiederholt sich auf ganze andere Art beim Inder Rahul Mehrotra und seinen Arbeiten zum Erhalt des kulturellen Erbe seines Landes. Im Wechsel von Innen und Außen zeigt sich der Pavillon selber, es gibt viele neue Durchblicke in die Giardini. Politisch kritisch geben sich die Niederländer vom Crimson Architectural Historians in ihrer Installation „A City of Comings and Goings“ zur Planung einer Stadt in Zeiten der Zuwanderung – Innen und Außen als soziale Frage.
Verspielter erweist sich der Parcours im Arsenale, den historischen Werftanlagen des Militärhafens von Venedig. Ihn haben die Kuratorinnen wie eine Promenade von Ideen zusammengestellt, die der Besucher flanierend abschreitet. Die Schweizerin Angela Deubler stellt sich dem Thema Grenzüberschreitung mit großflächigen Abbildungen, in denen Farb- und Landschaftsvisionen sich mit der technischen Zeichnung mischen Der Italiener Riccardo Blumer führt von Wasser gespannte Vorhänge vor, die zusammenfallen und sich wieder neu aufbauen. Das Berliner Büro Sauerbruch Hutton stellt Formen und Materialen für das neue Kulturzentrum M9 in Mestre aus. Der Portugiese Eduardo Souto de Moura lässt einen heruntergekommenen Gutshof als Hotel wieder erstehen. Von Neugierigen umlagert und immer wieder fotografiert und gefilmt wird das mit einer Videoprojektion und Kinderlachen lebendig gehaltene Modell des Fuji Kindergarten der japanischen Tezuka Architects.
Den Kuratorinnen liegt, wie sie betonen, der „demokratischer Raum“ am Herzen. Aber ihre Sicht auf die Welt bleibt trotz einiger Beispiele aus Afrika, Asien und Lateinamerika kulturell westlich geprägt. in einem gewissen Sinne springt da die Deutsche Unesco-Mitarbeiterin Anna Heringer ein. Mit bunten von Einwohnern aus Bangladesh hergestellten Tüchern stellt sie unter dem Titel „This is not a shirt. This is a playground“ einen Freiraum par excellence aus – das „arme“ Gegenstück zum Fuji-Kindergarten.
Den Briten aufs Dach steigen
Auch die Länderpavillons regieren durchweg auf das Freiraum-Thema dieser Biennale. Am radikalsten machen es vielleicht die Briten – sie lassen ihr Gebäude leer. Dafür haben sie auf dem Dach eine Terrasse gebaut, von der man in die Lagunenlandschaft blickt und am Nachmittag zum Five O’Clock Tea eingeladen wird. Die Schweizer präsentieren leicht und spielerisch leeren Wohnraum nach neuem Norm-Deckenstandard von 2,40 Meter Höhe. In dem Pavillon der USA wird man mit Projekten der Zivilgesellschaft konfrontiert. Und während sich die Deutschen mit den Räumen ihrer Geschichte auseinander setzten (siehe den nebenstehenden Beitrag), fragen die Italiener in einer äußerst gelungenen Ausstellung nach den gleichsam vergessenen Räumen und architektonischen Projekten ihrer ländlichen, oft von Erdbeben bedrohten Regionen.
Der erste Auftritt des Vatikanstaates auf einer Architekturbiennale beeindruckt. In den Grünanlagen hinter der Palladio-Basilika San Giorgio hat der Heilige Stuhl zehn kleine Kapellen nach Plänen von Architekten wie Norman Foster, Terunobu Fujimori oder Smiljan Radic aufgestellt. Ausgangspunkt ist der Nachbau einer Waldkapelle von Gunnar Asplund (Friedhof Stockholm, 1920). Keine der „Vatican chapels“ in den Gärten der S.Giorgio-Insel ist geweiht. Es sind freie Andachtsräume für alle Glaubensrichtungen.
Wie reagieren die Investitoren?
Wenn Freiraum als „Großzügigkeit des Geistes“ und als „humaner Sinn“ verstanden wird, wie es Yvonne Farrell und Shelley McNamara in ihrem Manifest formulieren, dann hat die diesjährige Biennale den Begriff „Freespace“ zumindest anregend ausgeleuchtet, ohne dabei in Populismen abzugleiten. Ein Problem beschreibt der deutsch-italienische Landschaftsarchitekt Andreas Kipar (Düsseldorf/Mailand) im Gespräch. Das Thema „Freespace“ sei in der Fachschaft längst angekommen, „jetzt wäre es an der Zeit, dass auch die Investoren einsteigen.“
Wie immer zu einer Biennale bietet Venedig eine Bühne für zahlreiche weitere Ausstellungen und Privatinitiativen. Der Stuttgarter Fotograf Achim Birnbaum etwa zeigt im Palazzo Bembo nahe der Rialtobrücke Architekturen nicht als nackte Strukturen, sondern betont die Verbindung zum Menschen. Einen besonderen Blick gönnt sich die Fondazione Prada in ihrem venezianischen Stadtpalast Ca’Corner della Regina, indem sie unter dem Titel „Machines à Penser“ Architektur, Landschaft und Kunst von Rückzugsorten bedeutender Denker wie Theodor W. Adorno (Los Angeles), Martin Heidegger (Todtnauberg/Schwarzwald) und Ludwig Wittgenstein (Skjolden/Norwegen) präsentiert. Das waren auch architektonisch gestaltete Orte, die abgegrenzt Freiräume (in den Köpfen) ermöglichten.
Freespace. 16. internationale Architekturbiennale, Venedig (Giardini/Arsenale) bis 25. November 2018. Tgl. außer montags 10-18 Uhr, Eintritt 25 Euro (Studenten/unter 26 Jahre 22 Euro, über 60 Jahre 20 Euro). Kurzführer Englisch/Italienisch 20 Euro. Info: www.labiennale.org
Auszeichnungen: Goldener Löwe für das Lebenswerk: Kenneth Frampton (Großbritannien). Goldener Löwe für den besten Länderpavillon: Schweiz. Besondere Erwähnung: Großbritannien. Goldener Löwe für den besten Teilnehmer: Eduardo Souto de Moura (Portugal). Besondere Erwähnung: Andra Matin (Indonesien) und Rahul Mehrotra (Indien/USA). Silbener Löwe für ein vielsprechenden Auftritt eines jungen Teilnehmers: Jan de Vyider, Inge Vinck, Jo Taillieu (Belgien).
Siehe auch auf Cluverius den Beitrag über den deutschen Pavillon „Spröde aber gelungen“
Eine etwas kürzere Fassung des Textes ist in der Stuttgarter Zeitung vom 26. Juni erschienen.