FRAGMENTE EINES PROTESTS


30 giorni a Hong Kong – Lisa Jucca erzählt vom wütenden Widerstand der Opposition im Herbst 2019 und der Enttäuschung, die sich in Chinas Sonderverwaltungszone breit macht

© Nicola Longobardi

Der Traum von Unabhängigkeit, trotz alledem – Aktivist in Hong Kong

Mailand – Die Welt hat sich von Hong Kong abgewendet. Sicher: Der Massenrücktritt von 15 Abgeordneten der pro-demokratischen Opposition, nachdem vier Kollegen von der chinesischen Zentralregierung kurzerhand suspendiert worden waren, war unseren Medien noch Anfang November eine Meldung wert. Aber unter der Hand wird längst akzeptiert, dass die ehemalige britischen Kolonie ihren semiautonomen Status verloren hat und von Peking aus regiert wird. Der entscheidende Umbruch, auch der Niedergang der Protestbewegung, spielte sich im vergangenen Herbst zwischen Oktober und November ab. Die Mailänder Journalistin Lisa Jucca erzählt von diesen Wochen in einem informativen wie spannend zu lesendem Buch, das gerade bei Scalpendi Editore erschienen ist: 30 giorni a Hong Kong.

Ende Juni 2019 hatte China ein sogenanntes Sicherheitsgesetz verabschiedet, dass die demokratischen Protestbewegung kriminalisierte und den seit über zwanzig Jahren festgelegten Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ ad acta legte. Es folgte ein Sommer voller Wut, der Hundertausende Menschen zu immer neuen Demonstrationen auf die Straßen führte. Der zunächst friedlich Protest wurde dabei zunehmend von Aktionen des Vandalismus und Gewalt begeleitet, auf die die Polizei mit ebensolcher Gewalt antwortete. Es gab Tausende Festnahmen. Höhepunkt war dann die Besetzung der Universität, die schließlich von den Besetzern enttäuscht und erschöpft im November aufgegeben wurde. Erfolge bei der Kommunalwahl für die Opposition konnten die grundlegende Entwicklung pro China nicht aufhalten – siehe auch die kürzliche Ausschließung einiger Abgeordneter.

Die Seele Hong Kongs

Lisa Jucca, die für Reuters Breakingviews arbeitet, hatte von 2014 bis 2017 als Korrespondentin aus Hong Kong berichtet. Im vergangen Herbst war sie wieder in die Sonderverwaltungszone am Südchinesichen Meer gereist. Mit britischer Genauigkeit und italienischem Einfühlungsvermögen erzählt sie in einer Art Tagebuch von ihren Erlebnissen und Begegnungen mit Menschen und sammelt Fragmente eines Protests. In ihren Gesprächen wird deutlich, wie sich nach und Desillusion der Aktivisten breit macht. Die Autorin beschreibt die Fehler der Demonstranten aber auch die brutale Gewalt der Staatsmacht. Sie berichtet von der wirtschaftlichen Krise, von neuer Armut aber auch von Neureichen und Krisengewinnlern, die sich inzwischen mit zwei Pässen eingerichtet haben. Selbst erschrocken über die Entwicklung bleibt ein Funken Hoffnung: „Die Seele Hong Kongs, die sich nach größerer Freiheit und Demokratie sehnt“, resumiert sie, „ist noch nicht ganz gezügelt.“

Gleichsam als visuelle Ergänzung ist bei Scalpendi auch ein Fotobuch mit Aufnahmen des italienischen Fotoreporters Nicola Longobardi über die Proteste in Hong Kong der vergangene Jahre erschienen („Be water. Iconografia di una protesta“). Eine Übersetzung des Textes von Lisa Jucca zusammen mit einigen Aufnahmen von Nicola Longobardi könnte als Veröffentlichung im deutschen Sprachraum die Auseinandersetzung mit dem Thema Hong Kong nur bereichern.

Lisa Jucca: 30 giorni a Hong Kong. Frammenti di una protesta. 208 pagg., 12 Euro

Nicola Langobardi: Be water. Iconografia di una protesta. 112 pagg.,ill.,12 Euro.

Beide Titel bei Scalpendi Editore, Milano 2020