GELBGRAUE WURMGEWINDE


Dieter Richter beschreibt in seinem Buch „Con gusto“ die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht. Im Wandel des Geschmacks wird ein kultureller Wandel sichtbar.

© Indigo Film, Rai Cinema

Neapolitanische Spaghetti-Schlacht im volkstümlichen Theater (- aus dem Film „Qui rido io“ von Mario Martone mit u.a. Toni Servillo rechts auf dem Tisch)

Mailand – Italienisch essen, das war in den Zeiten der Pandemie, als das Reisen unmöglich war, die einzige Art, sich körperlich mit dem Süden zu verbinden. Entweder über den eigenen Herd, wo inzwischen (fast) jedes Kind schmackhaftes Risotto oder verführerisches Tiramisù vorbereiten kann. Oder beim „Lieblingsitaliener“, der die Speisen zudem mit halb deutschen, halb italienischen Wortfolgen koloriert serviert. Und wenn die Italiensehnsucht in der jüngeren Vergangenheit immer mal wieder gelitten hatte (Berlusconi, Müll in Rom, Algen in der Adria), die kulinarische Variante dieser Sehnsucht blieb ungebrochen. Eine Variante, die sich aber erst langsam in der deutsch-italienischen Geschichte durchgesetzt hat, wie Dieter Richter in seinem wundervollen kleinen Buch Con gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht  erzählt (Wagenbach).

Den Reisenden der Grand Tour im 18. und 19. Jahrhundert war Italien ein Wunderland mit herrlichen Landschaften, antiken Zeugnissen und kunstvoller Renaissance. Aber die Küche? „Übelriechend“. „Unverdaulich“. Noch 1878 legt Victor Hehn dem Reisenden nah: „Wenn ihn der Geruch nicht schon von ferne warnt, so wird der erste Bissen verhängnisvoll werden.“  Der kräftige Eigengeschmack des Olivenöls und der Gebrauch von Knoblauch galten als besonders abschreckend. Und die Pasta? „Gelbgraue Wurmgewinde!“ Die Meeresfrüchte? „Pfui, wer kann so etwas essen wollen!“ Auch die Pizza bekommt ihr Fett weg. So suchten die Reisenden in Italien deutsch geführte Gasthöfe. Und der 1845 gegründete „Deutsche Künstler Verein“ unterhielt in seinen Räumen auch einen großen Speise- und Kneipsaal – „ein wahres Stück Vaterland mitten in Rom“ begeisterte sich der Dichter Hermann Allmers 1859.

Genuss gleich Bella Italia

Die kulinarische Meridionalisierung des Nordens beschreibt dann der zweite Teil des Buches. Das begann am Anfang des 20. Jahrhundert langsam mit Obst, mit den Südfrüchten, und fand eine erste Welle im Speiseeis. „Eis wurde zum italienischen Geschmacksträger, sein Genuss verband sich mit der Idee von Bella Italia”, so der Autor. Als Italien auch als Urlaubsland für Otto Normalverbraucher entdeckt wurde. Dann kamen mit den Arbeitsmigranten, die man „Gastarbeiter“ nannte, die Pizza, die Pizzeria und schließlich das Restaurant. Bald fanden die Bundesbürgerinnen und Bürger ihren „Lieblingsitaliener“. Als dann noch die Mittelmeerdiät von den Medien entdeckt wurde, verband sich das gute Essen mit dem gesunden. Das war nicht mehr zu toppen.

„Im Wandel des Geschmacks wird ein kultureller Wandel sichtbar. Und er führt die Entstehungsbedingungen aller kulturellen Prozesse in besonderer Weise vor Augen: Begegnung und Austausch des Eigenen mit dem Fremden.“ Ein kleines, kluges Buch, das mit gusto, mit Geschmack fürs Detail  und Liebe zur Anekdote geschrieben ist, aber zugleich große Zusammenhänge herstellt. Nur hätte man ganz gerne auch gelesen, ob und welche Rolle der Wein in dieser kulinarischen Geschichte gespielt hat.

Dieter Richter: Con gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht.  Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 168 Seiten, 20 Euro