GRENZÜBERSCHREITUNGEN


Hölderlin und Europa – ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Ophälders

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)

Mailand – Was gerade in Berlin, Rom oder Wien beredet und beschlossen wird, lässt an der europäischen Idee, an der politischen und kulturellen Identität Europas zweifeln, wenn nicht sogar verzweifeln. Europa schließt sich nicht nur an seinen Außengrenzen ab, sondern auch zwischen den Staaten der EU werden gerade wieder Schlagbäume aufgestellt, an denen Grenzüberschreitungen abprallen oder durch sie zumindest erschwert werden. Dass man Europa von seinen kulturellen Grundlagen aus anders denken kann, zeigt – ausgehend von einer Tagung in der Villa Vigoni – ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Ophälders über Hölderlin.

Wie Fragen von kulturellen Grenzüberschreitungen beim Lyriker Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) in den Zeiten um die Wende vom 18. und 19. Jahrhundert gestellt und formuliert wurden, das war gerade das Thema einer Tagung in der Villa Vigoni, dem deutsch-italienischen Wissenschaftszentrum am Comer See. Philosophen und Literaturwissenschaftler der Universitäten Kiel (Albert Meier), Udine (Elena Polledri) und Verona (Markus Ophälders) setzten sich dabei mit Begriffen wie Heimat und Fremde im Werk von Hölderlin auseinander – zum Abschlussbericht der Tagung siehe hier.
Fragen an Markus Ophälders (*):

Kann man von einem Weltbürgertum bei Hölderlin sprechen?

Markus Ophälders: „Sicher gibt es ein Weltbürgertum bei Hölderlin. Das ist bei ihm jedoch nicht so klar festzumachen wie etwa bei Goethe oder bei Kant. Was Hölderlin allerdings mit Goethe und Kant vereint, ist dass er zu einer Epoche gehört, in der es im Grunde genommen noch gar keine Nationen gab. Abgesehen von Frankreich, England oder Spanien, die aber noch nicht so ausgebildet waren wie nachher. Vor allem war Deutschland keine Nation und deshalb konnte man damals wie auch in Italien ein nationales Gefühl – Nietzsche spricht von einem gemeinsamen Fühlen als Kultur – kulturell wesentlich besser aufbauen als durch staatliche Institutionen.

Heimat und Fremde

Wie benutzt Hölderlin die Begriffe Heimat und Fremde?

„Bei Hölderlin steht ja im Zentrum, wenn er von Heimat und Fremde spricht, immer Deutschland und Griechenland. Aber man darf nicht vergessen, dass Hölderlin auch französischen Denkern und französischen Dichtern Gedichte gewidmet hat und dementsprechend aus dieser Dualität Deutschland Griechenland ausbricht. Die teilt er ja mit Schiller, mit Goethe oder mit Hegel. Das zeugt ein bisschen davon, dass er eben keine territorialen Grenzen sieht.“

Was also können wir von Hölderlin über Europa lernen?

„Wir können von Hölderlin über Europa lernen, dass wir alle eine gemeinsame kulturelle Wurzel haben und die liegt in Griechenland. Aber man schlösse auch hier zu kurz, wenn man nur Griechenland nehmen würde. Denn bei Hölderlin gibt es auch die andere Wurzel, das ist die christliche. ‚Brod und Wein’, eines seiner berühmtesten Gedichte, sagt das im Titel schon. Dann gibt es ein Gedicht, das hat den Titel ‚Der Vatikan’. Die Jesus-Figur kommt bei Hölderlin immer wieder vor, genauso wie griechische Mythen oder griechische Götter. Das hat Hölderlin ganz klar gesehen, das sind die beiden Wurzeln, die Europa zu einer Einheit in der Vielheit führen. Das war ja in der Vergangenheit schon so, das Reich Karls des Großen war mehr auf dem christlichen Denken gegründet. Anders Österreich-Ungarn, das auf multikulturelle Identität aufbaute. Übrigens ein Beispiel dafür, was heute Europa sein könnte. Jedenfalls beide fußten auf kulturellen Ursprüngen.

Wie hat Hölderlin Fremde erfahren?

„Hölderlin hat lange Wanderungen gemacht, aber nicht viele. Also Hölderlin hat keine italienische Reise unternommen, wie Goethe oder Lord Byron oder wer auch immer. Er hat sich wenig aus seiner Württembergischen Heimat fortbewegt. Ich meine, man könnte da sagen, Hölderlin brauchte das Fremde, so wie es war, nicht unbedingt kennen zu lernen, denn die Kultur ist ja die cultura animae, er konnte das aus seiner eigenen Bildung heraus sich vorstellen. Deshalb konnte er sich von Griechenland ein Bild machen, was kulturell sehr viel wichtiger geworden ist, als alles was zum Beispiel Schiller oder Goethe über Griechenland gesagt oder geschrieben haben. Aus welchem Grund? Weil das Bild von der Fremde immer ein Bild ist, das wir uns machen. Die Fremde ist nicht einfach da und muss als solche genommen werden, denn als solche gibt es sie gar nicht. Die Fremde ist immer etwas, was in Bezug zu dem Eigenen sich herausbildet. Und das kann man auch zuhause am Schreibtisch machen.“

Hinübergehen und Wiederkehren

Und Heimat?

„Da könnte ich den folgenden Vers aus Brod und Wein heranziehen:
‚… nemlich zu Haus ist der Geist / Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath“.’
Das heißt soviel wie: er wird von der Heimat verzehrt. Wenn er bei sich zuhause bleibt, dann wird er verzehrt, dann geht er ein, dann stirbt er. Und dann schreibt Hölderlin:
‚Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.’
Das heißt der Geist muss erst einmal in die Kolonie gehen, in etwas Fremdes gehen, um dann – wenn er wieder zurück kommt – um dann das Eigene wirklich schätzen und dann auch kennen zu lernen – ‚hinüberzugehen und wiederzukehren’, wie das in Patmos heißt. Denn wir kennen unser Eigenes nicht, solange wir diesen dialektischen Gegensatz mit der Fremde nicht haben.“

Welche Rolle spielt dabei die Metapher vom Fluss? Er hat Gedichte über den Rhein geschrieben, über die Donau…

„An den Flüssen wurden seit jeher die wichtigen Städte errichtet. Der Fluss nämlich ist ebenso Ursprung, Quelle und damit Eigenes, Festes und Bestimmtes, Heimat in ihrer unmittelbarsten Form. Wie er auch Lauf ist, Verwandlung und Werden, die zur Mündung führen, das heißt zu einem Ziel. Ein Ziel, das etwas Anderes ist als der Ursprung und zugleich den Ursprung als Anderes in sich enthält. Ich könnte das so zusammenfassen: Erfahrung und das bedeutet ja Kultur, das bedeutet auch Heimat, hat immer ein bisschen damit zu tun, dass man das Ähnliche im Unähnlichen wieder erkennt. Und dazu könnte man auch noch die beiden Gegensatzpaare hinzusetzen, auf der einen Seite ist der Fluss Ortschaft und Wanderschaft, auf der anderen ist er auch Heimat und Fremdes in einem.“

Wie kann man dann einen Vers aus der Mnemosyne erklären: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos,/ Schmerzlos sind wir und haben fast/ Die Sprache in der Fremde verloren“?

„ ‚Ein Zeichen sind wir deutungslos’, kann auch bedeuten, dass wir keine Bedeutung haben und dass wir die Bedeutung dieses Zeichens, das wir sind, immer erst schaffen müssen. Und das ist die kulturelle Arbeit. Und wir müssen durch die Sprache – und Sprache steht hier für Kultur, nicht nur für die dichterische Sprache, sondern auch für Musik, für Bilder usw. – wir müssen durch Sprache diese kulturelle Identität erst einmal schaffen. Und das können wir nur, wenn wir in die Fremde gehen und aus der Fremde durch neue Erfahrung in das Eigene zurückkehren. Und da gehören die folgenden Zeilen dazu, wir hätten in der Fremde fast die Sprache verloren. Jetzt sagt Hölderlin aber ‚fast’, er sagt nicht, wir haben die Sprache verloren. Und die Sprache ‚fast’ verlieren, ist genau der Punkt oder die Schwelle, auf der wir kulturelle Erfahrungen machen. Das heißt unsere eigene Sprache wird uns fast zu etwas ganz Fremden – aber nicht ganz. Und da erkennen wir, dass diese Sprache unsere eigene wirkliche Sprache ist. Übersetzt heißt das, dass diese Kultur oder diese Erfahrung unsere wirkliche Erfahrung ist. Und um diese Erfahrung machen zu können, müssen wir eben in die Fremde gehen. Wir können nur aus der Fremde wieder zurückkommen. Anders gibt es keine Kultur, anders gibt es keine Heimat. Heimat hat immer etwas Unheimliches an sich, wenn man das so aussprechen darf.“

Die kulturelle Identität Europas

Was ist problematisch am Begriff der kulturellen Identität Europas?

„Dass es keine Kultur gibt. Die Machthaber im Europa unserer Jahre, die haben ja überhaupt kein kulturelles Konzept, das muss man einfach mal so ganz klar sagen. Es geht nur um wirtschaftliche Zahlen, um Schulden oder Nichtschulden, und auch politisch geht es im Grunde nur um das Minimalste. Es gibt fast keinen kulturellen Austausch.“

Sollten als Seehofer, Salvini oder Kurz vielleicht Hölderlin lesen?

„Thomas Mann hatte ja schon in anderen Zeiten gesagt, dass Karl Marx Hölderlin hätte lesen sollen. Er meinte damit, dass zu dem wirtschaftlichen Teil, zu dem politischen Teil, auch der kulturelle mit hinzukommen muss. Anders führt das zu nichts und das glaube ich, beschreibt unsere momentane Situation auch sehr gut.“

Das Gespräch wurde am 4. Juli 2018 in Mailand geführt

Markus Ophälders

(*) Markus Ophälders unterrichtet Ästhetik und Philosophie der Kunst und Musik an der Universität Verona. Der 54jährige Philosoph ist von seiner Biographie her für Fragen nach Grenzüberschreitungen, nach Heimat und Fremde sensibilisiert: er wurde in den USA als Kind deutscher Eltern geboren, hat in Berlin, Bologna und Mailand studiert und lebt in Italien. Zuletzt von ihm erschienen: „Dialettica dell’Ironia Romantica“ (Mimesis, Milano/Udine 2016) sowie „Konstruktion von Erfahrung. Versuch über Walter Benjamin“ (Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2016).

Zum Abschlussbericht der Tagung “Grenzen und Grenzüberschreitungen der Kultur: Hölderlin und Europa “ in der Villa Vigoni siehe hier

Siehe auch den Beitrag im Deutschlandfunk vom 8. Juli 2018 in Information und Musik „Ohne Fremde keine Heimat“