HOFFUNG IM HERZEN, FEUER IM BAUCH


Biennale (1): Die 58. Esposizione Internazionale d’Arte bietet eine vielleicht wenig spektakuläre aber höchst vielseitige Ausstellung. Politische und soziale Fragen bleiben tonangebend, werden aber nicht ideologisch überspitzt

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Leichter Nebel zieht über den zentralen Pavillon der Biennale in den Giardini – eine Installation der Italienerin Lara Favaretto („Thinking Head“ 2019)

Venedig (Giardini/Arsenale bis 24.11.19) – Am Eingang zur Hauptausstellung der 58. internationalen Kunstbiennale im zentralen Pavillon der Gartenanlagen Venedigs sieht sich der Besucher bunten aufgeblasenen Tafeln gegenüber. Wird die Luft abgelassen, kann man kurze Botschaften lesen: „Don’t Worry“, „Hey, Relax“ oder „It’s over“. Will uns der in New York lebende Franzose Antoine Catala mit seiner Arbeit sagen, alles sei (unwiderrufen) zu Ende oder (zum Glück) nur vorbei? Bei dieser Biennale sind Fragen nicht eindeutig, die Antworten schon gar nicht.

Es gibt viele Blickwinkel, die man auf die Welt von heute richten kann. Und viele Möglichkeiten, die Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu interpretieren. Das genau ist das Thema, das Ralph Rugoff, der Direktor der diesjährigen Biennale, vorgegeben hat. „May You Live In Interesting Times“, so ihr durchaus auch mehrdeutiges Motto, dass man in interessanten Zeiten leben möge.

71 Künstler, darunter viele Newcomer

Der 62jährige Amerikaner, seit vielen Jahren Leiter der Hayward Gallery London für Gegenwartskunst, hat dafür 71 Künstler bzw. Künstlergruppen nach Venedig eingeladen. Das sind besucherfreundlich deutlich weniger als in den vergangenen Jahren. Darunter sind bekannte Namen (Christian Marclay, Tomàs Saraceno, Rosemarie Trockel), aber auch viele Newcomer. Viele kommen aus dem afrikanisch-asiatischen Raum, wenn auch nicht wenige davon mit einem Lebensraum in New York oder Los Angeles. Berlin ist nach wie vor Wohnsitz von Künstlern auch aus Spanien, Polen, Zypern oder dem Iran.

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„Snoopy“ – Anzug eines Motoradfahres wie eine Jagdtrophäe an der Wand (Alexandra Bircken 2014)

Zum ersten Mal sind mehr Frauen als Männer auf einer Biennale vertreten. Wie die Deutsche Alexandra Bircken, die sich mit menschlicher Verletzlichkeit beschäftigt. Im Hauptpavillon der Giardini hängt sie einen Motorradanzug wie eine Jagdtrophäe an die Wand, daneben steht eine aufgeschnittene Rennmaschine, die ihre inneren Mechanismen bloß legt. Im zweiten Teil der Ausstellung, in den alten Werftanlagen des Arsenale, stülpt die Künstlerin in einer apokalyptischen Installation 40 Figuren aus Latex wie gleichsam luftleere Säcke über Leitern und Gerüste.

Probleme werden nicht ausgeklammert

Ralph Rugoff bespielt die beiden traditionellen Ausstellungsbereiche der Biennale mit den jeweils selben Künstlern aber mit verschiedenen Ausschnitten aus ihren Arbeiten. Vielseitig sei das Kunstschaffen der Welt, vielseitig auch die Blicke des einzelnen Künstlers, so seine Theorie. Was aber nicht zur Beliebigkeit verleiten soll. Denn der von Menschen verursachte Klimawandel, Kriege, Emigration, rasante technologische Umbrüche von der Gentechnik bis zur künstlichen Intelligenz werden auf dieser Biennale nicht ausgeklammert.

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Vergebliche Mühe – der Roboter der Chinesen von Sun Yuan und Peng Yu unter dem Titel „Can’t Help Myself“ (2016)

Ganz im Gegenteil: die Chinesen Sun Yuan und Peng Yu haben einen riesigen Roboter entworfen, der mit einem Schaufelarm unentwegt versucht, blutrote Farbe vom Boden zu wischen – aber die Farbe fließt immer wieder nach. Gegenwart durchzieht viele Arbeiten, die Erde wird unbewohnbar wie der Mars, Mauern und Stacheldraht zerteilen Räume. Der Alltag wird in den Giardini mit Müllsäcken aus schwarzem Marmor des Albaners Andreas Lolis abgeladen. Arthur Jafa (USA) denkt in einem Video über die weiße „Rasse“ nach. Und die Münchenerin Hito Steyerl plädiert in einem Leonardo da Vinci gewidmeten Video für Strategien, sich dem Machbarkeitswahn zu widersetzen. Der Schweizer Christoph Büchel brachte mit seiner Installation „Barca Nostra“ ein Boot nach Venedig, das 2015 mit über Tausend Flüchtlingen im Mittelmeer kenterte und die Insassen in den Tod riss. Ein Monument der (An-)Klage – oder überschreitet hier Kunst spekulativ Grenzen?

Kunst soll Denken anstoßen

Die Kunst, so Ralph Rugoff, könne Nationalismus nicht aufhalten oder das Drama der Emigration nicht beenden, aber sie könne Blicke auf sie öffnen und Denken anstoßen. So hat er eine vielleicht wenig spektakuläre aber höchst vielseitige Ausstellung von Gegenwartskunst entworfen bis hin zur Thematisierung von Frauenrollen, zu Problemen wie Einsamkeit und Krankheit. Es bleibt wenig Raum für einen verspielten Umgang mit der Wirklichkeit zum Beispiel durch den Chinesen Nabuqi, der eine Kunststoffkuh auf Schienen rollen lässt. Die Zeiten sind einfach nicht danach.

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„Neverland“ – Die Fassade eines Pavillons für Künstler, die sich keiner Nation zugehörig fühlen. Eine Arbeit des kurdischen Türken Halil Altindere (2019)

Wie bei jeder Biennale zeigen sich die Länderpavillons von ganz unterschiedlichen Seiten. In diesem Jahr sind 79 Staaten vertreten, neu dabei zum ersten Mal Ghana, Madagaskar, Malaysia und Pakistan. Es überzeugt die Videoinstallation von Laure Prouvost im französischen Pavillon, die bei einer Reise von Paris nach Venedig, Zugehörigkeiten und Identitäten hinterfragt. Oder die von Pauline Boudry und Renate Lorenz in dem der Schweiz, die mit einer Tanzperformance in urbanes Leben eintauchen. Getanzt wird auch bei den Brasilianern. Bunt und opernhaft geht es in Litauen mit einer Strandszene im Keller zu.

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Umstritten: Der Schweizer Christoph Büchel zeigt das Flüchtlingsboot einer Todesfahrt auf dem Mittelmeer  „Barca Nostra“(2018/2019)

Trist spiegelt der verlassene Pavillon Venezuelas, den der große italienische Architekt Carlo Scarpa vor 61 Jahren als eine Ikone der Moderne errichtet hatte, den aktuellen Zustand des lateinamerikanischen Landes wieder. Und dem Iran ist es gelungen, wie italienische Medien berichten, trotz Boykottdrohungen der USA gegen Transport- und Versicherungsunternehmen, in ihrem Pavillon im Stadtgebiet auf dem Fondaco Marcello eine Kollektivausstellung einzurichten. Sie spiegelt in aller Bescheidenheit wieder, was Biennale-Direktor Ralph Rugoff sich grundsätzlich von Künstlern wünscht: Hoffnung im Herzen, aber Feuer im Bauch.

 

La Biennale di Venezia. 58. Esposizione Internazionale d’Arte. Venedig (Giardini, Arsenale, und an anderen Orten) bis 24.11.2019. Di – So 10 – 18 Uhr (Fr und Sa bis 20 Uhr), Mo geschlossen (außer 13.5., 2.9., 18.11.). Eintritt 35 Euro (über 65 Jahre 20 Euro, Studenten und unter 26 Jahre 25 Euro). Katalog (Englisch oder Italienisch) 85 Euro, Kurzführer 18 Euro. Info hier

Ein ähnlicher Beitrag ist in der Stuttgarter Zeitung vom 11.5. erschienen

Siehe auch auf Cluverius: Biennale (2): „Kopflastig“