IHR ANBLICK VERZAUBERT


Helena Janeczek macht sich im Roman „Das Mädchen mit der Leica“ auf die Suche nach der Persönlichkeit der Fotografin Gerda Taro hinter einer kurzen, intensiven Lebensgeschichte

© helenajaneczek.com /  fredstein.com

Partner und Paar – Gerda Taro und Robert Capa in Paris im April 1936 in einem Foto von Fred Stein

Mailand – Im Jahr 2007 taucht in New York ein Koffer mit Bildnegativen aus den 1930er Jahren auf. Er enthält vor allem Aufnahmen vom spanischen Bürgerkrieg vom weltberühmten Robert Capa (1913-1954), vom Fotojournalisten David Seymour (1911-1956) und von Capas Partnerin Gerda Taro – der ersten Frau, die als Fotoreporterin von Kriegsereignissen berichtet hatte. Der Fund bringt die fast vergessene Gerda Taro wieder in Erinnerung. Wer war diese wagemutige Frau, die 1910 als Tochter einer jüdischen Familie polnischer Abstammung in Stuttgart geboren wurde, als überzeugte Sozialistin vor den Nazis nach Paris floh, dort den Männern der Emigrantenszene den Kopf verdrehte und bei einem Fotoeinsatz an der spanischen Front mit nur 27 Jahren ums Leben kam? Helena Janeczek hat über sie in Italien einen Roman veröffentlicht, der jetzt unter dem Titel „Das Mädchen mit der Leica“ (Berlin Verlag) auch auf Deutsch vorliegt.

„Seit du dieses Foto gesehen hast, hat dich ihr Anblick verzaubert.“ Helena Janeczek erzählt von sich, während sie den Leser zum Zeugen macht. Mit dieser einfachen wie überzeugenden Formel erweitert sie den bis heute in Ausstellungen und in längst wieder vergriffenen Veröffentlichungen dokumentierten Werdegang von Gerda Taro, indem sie sich in das Leben der jungen Frau und ihren Freundeskreis einfühlt. Aber sie schreibt keine Biographie, sondern einen Roman. Sie durchbricht In drei von Prolog und Epilog gerahmten Teilen ständig die Chronologie der Ereignisse und nähert sich der vielschichtigen Persönlichkeit von Gerda mit Hilfe dreier Zeugen jener Tage. Das sind der spätere Herzchirurg Willy Chardack, der in Gerda hoffnungslos verliebt war, ihre Freundin Ruth Cerf, mit der sie in Paris eine Wohnung teilte, und der Arzt Georg Kuritzkes, ihre Jugendliebe. So sammelt sie geduldig Mosaiksteine, die aber nicht alle Lücken füllen: Der Mensch Gerda Taro entgleitet scharfen Konturen.

Ein offener Roman

Doch lassen diese Annäherungen eine lebenshungrige wie liebenswerte Persönlichkeit erahnen. Spannend ist die enge Einbeziehung des sozialen, meist von jüdischen Emigranten geprägten Umfeldes in Paris. Wobei es nicht nur um die Liebesbeziehung zwischen Gerda Taro und Robert Capa geht. Die Autorin macht es jedoch den Lesern nicht leicht, verweigert sich jeder Dokufiktion, erzählt in Kreisen. Details fügen sich nicht immer zu einem Bild. Namen, Kosenamen, tauchen auf und verschwinden wieder. Andere glaubt man zu kennen. Wer war noch mal Csikis Weisz? Was wurde aus Fred Stein? Wie kam Willy Brandt nach Paris? Die Leser dürfen sich selbst gleichsam Fußnoten erstellen und bei Wikipedia oder anderswo nachschlagen. Der Roman ist in einem gewissen Sinne offen, und zu den vielen kleinen Geschichten, die Helena Janeczek manchmal nur andeutet, kann man weitere anfügen, das Mosaik erweitern.

Der Roman, 2017 in Italien erschienen, wurde im Jahr 2018 mit dem mondänen Premio Strega ausgezeichnet und ein Bestseller. Verena von Koskull hat ihn flüssig übersetzt.

Man zuckt allerdings zusammen, wenn man auf Deutsch „Freunde und Parteigenossen“ liest, wo im Original von „amico o compagno di partito“ die Rede ist  – „Parteigenosse (PG)“ ist als Sprachschöpfung der Nazis die Bezeichnung für die Mitglieder der NSDAP. Eine Flüchtigkeit, die ein aufmerksamer Lektor hätte ausbügeln können. Schließlich konnte die 1970 geborene Verena von Koskull bislang mit vielen Übersetzungen überzeugen. Und zu recht wird sie in diesem Jahr für die Übertragung des kolossalen Romans „Die katholische Schule“ von Edoardo Albinati mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Fundiert recherchiert

Überzeugend schließlich an dem Roman ist die literarische und in Abbildungen zugleich  reale Einbeziehung der Fotografie. Aufnahmen, die Geschichten auslösen oder Vermutungen erden. Auch hier zeigt sich „Das Mädchen mit der Leica“ als ein offenes Buch. Auf ihrer Webseite liefert die Autorin mit vielen Zusatzfotos (und anderen Materialen) Dokumente ihres fundiert recherchierten Romans – ohne ihm das Romanhafte zu nehmen.

Helena Janeczek wurde 1964 als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie in München geboren. Sie studierte in den 1980er Jahren in Mailand und lebt seitdem als italienische Staatsbürgerin in Gallarate unweit das Lago Maggiore, wo sie auch ein Literaturfestival gegründet hat. Sie ist Mitarbeiterin verschiedener literarischer Zeitschriften und Verlage. In deutscher Übersetzung ist unter anderem ein familiengeschichtlicher Roman „Lektionen des Verborgenen“ (Kiwi, Köln 1999) erschienen.

Helena Janeczek: Das Mädchen mit der Leica. Roman. Deutsch von Verena von Koskull.  Berlin Verlag im Piper Verlag, Berlin/München (2020). 350 Seiten, 22 Euro

Siehe auf Cluverius eine Begegnung mit der Autorin im Dezember 1999 zu den Lektionen des Verborgenen: „Mutter, Tochter, Spiegelbilder“