im Kino: Marx può aspettare


Marco Bellocchio hat einen bewegenden Dokumentarfilm über seinen Zwillingsbruder Camillo gedreht, der mit 29 Jahren aus dem Leben schied – ein Film auch über seine Familie und sich selbst.

© Rai Cinema

Geschwister Bellocchio heute: Piergiorgio, Letizia, Alberto, Maria Luisa, und Marco (von links)

Mailand (Cinema Anteo) – Der Film beginnt mit Aufnahmen eines Familientreffens der Familie Bellocchio kurz vor Weihnachten 2016 in Piacenza. Marco Bellocchio, seit seinem Erstling I pugni in tasca („Mit der Faust in der Tasche“) 1965 ein vielfach prämierter Filmemacher, wollte Bilder für ein Art privates, filmisches Tagebuch ohne weitere Ansprüche drehen. Daraus entwickelte sich eine über mehre Jahre andauernde Befragung der Familie zum Schicksal seines Zwillingsbruders Camillo, der sich kurz nach Weihnachten 1968 im Alter von 29 Jahren das Leben genommen hatte.

Das war eine durchaus problematische Familie, von der Marco Bellocchio im Film erzählt. Die acht Kinder (sechs Jungen, zwei Mädchen) wuchsen unter einem autoritären Vater, einem Anwalt, und einer tief im Katholizismus verwurzelten Mutter zwischen der norditalienischen Provinzstadt Piacenza und dem wenig entfernten Apenninstädtchen Bobbio – eine Provinz in der Provinz – auf. Ein Bruder von Marco litt unter Schizophrenie, eine Schwester unter einer Form von Sordomutismus. Erfolgreich meistern vor allem zwei ihr Leben: Piergiorgio (geboren 1931), der als Schriftsteller, Verleger und unermüdlicher Intellektueller u.a. die Quaderni Piacentini gründete, eine Zeitschrift, die das kulturelle Klima Italiens der 1968er Jahre mitbestimmt hatte. Und eben Marco (geboren 1939), der Filmregisseur, der noch 2019 mit dem Antimafiafilm Il Traditore Aufsehen erregte (siehe hier auf Cluverius) und gerade in Cannes mit einer „Ehrenpalme“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Solidarisch erzählt

Warum dieser Tod? Warum Camillo? Die Erinnerungen der Brüder und der Schwestern setzen sich zu einem langen, gleichsam psychoanalytischen Gespräch zusammen, an dem der Autor aktiv teilnimmt – dazu kommen wenige Außenstehende. Nicht alle Erinnerungen gleichen sich – jedes Gedächtnis hat seine Schatten. Marco Bellocchio zeichnet einerseits sehr solidarisch das Bild der einzelnen Familienmitglieder, die andererseits wie er nicht die Zeichen erkannt hatten, die dem Tod von Camillo vorausgingen. Und die sich heute noch unter teilweise unterschiedlichen Ansätzen suchend fragen, wieso es überhaupt so weit kommen konnte.

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Glücklichere Zeiten: Marco, Piergiorgio und Camillo Bellocchio (von links)

Marx può aspettare, hatte Camillo einmal zu Marco gesagt, vor den gesellschaftlichen Problemen müsse er seine privaten regeln: „Marx kann warten“. Sein politisierter Zwillingsbruder lebte damals bereits als Erfolgsregisseur in Rom und baute diesen Satz als Dialog in einen seiner Filme ein. Jetzt taucht er als Titel wieder auf. Als Titel eines Dokumentarfilms über einen Zwillingsbruder, über eine Familie und über einen Filmregisseur – über Marco Bellocchio, der sich im Porträt des Bruders selbst porträtiert.

Marx può aspettare. Dokumentarfilm, Dauer: 96 Minuten. Regie und Buch: Marco Bellocchio. Kamera: Michele Cherchi Palmieri, Paolo Ferrari. Schnitt: Francesca Calvelli. Produktion: Kavak Film, Rai Cinema, Tenderstories. Italien 2021

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