Emma Dante inszeniert am Piccolo Teatro eine neue Arbeit über Humanität und Hoffnung am Bodensatz der Gesellschaft
Mailand (Piccolo Teatro Grassi bis 16.2.2020) – Drei etwas heruntergekommen wirkende Frauen sitzen in einer Reihe auf der Bühne. Sie stricken, sie streiten, sie beschimpfen sich. Zwischen ihnen ein junger Mann in einem kindlichen Kleid, geistesschwach, unfähig still zu sitzen und seine Bewegungen zu kontrollieren. Bald lernt der Zuschauer, es sind drei Prostituierte, die so tagsüber ihre Zeit verbringen, während sie sich nachts wohl nicht weniger heruntergekommenen Freiern anbieten. Der Junge aber ist das Kind einer Kollegin, die von ihrem Vater brutal erschlagen worden war, seine Verhaltensstörungen sind Folgen dieser Tat. Die Drei haben ihn aufgezogen.
Es ist nicht Mitleid, sondern Mitliebe, ihre Art von Barmherzigkeit, die sie mit dem Jungen verbindet, um und mit dem sie sich streiten. Misericordia nennt Emma Dante deshalb ihr Stück, das jetzt von ihr inszeniert am Mailänder Piccolo Teatro uraufgeführt wurde. Die drei Frauen wollen, weil nun der Junge groß geworden ist, ein besseres, geordnetes Leben für ihn. Er träumt davon, Musiker in einer Straßenkapelle zu werden. Sie machen ihm klar, dass er dafür in ein Heim mit einem warmen Zimmer und einem Schrank mit Schubladen wechseln muss.
Körpersprachen von der Geste bis zum Tanz
Es gehört zum Theater von Emma Dante, alltägliches Verhalten, Fühlen, Leiden in eine ausdrucksvolle und zugleich einfache dramatische Sprache zu übersetzen. Sprache heißt nicht nur die verbale Kommunikation, für die die Theatermacherin aus Palermo auch mit „eigenen“, aus Dialekten entwickelten Idiomen arbeitet, sondern ebenso Körpersprachen von der Geste bis zum Tanz. Der Tänzer Simone Zambelli ist deshalb eine Idealbesetzung für die Rolle des Jungen. Der wird am Ende von seinen drei „Müttern“ wie ein richtiger Junge angezogen und gleich einem Pinocchio in die Welt hinaus geschickt, um das Leben zu lernen. Mit sich trägt er einen kleinen Koffer, in dem er eine Puppe und ein von seiner verstorbenen Mutter gesticktes Kissen legt.
Das einfache Stück, auf nackter Bühne, mit wenigen Requisiten, dauert kaum 60 Minuten. Situationskomik, Provokation, Ballett, Akrobatik, Musikeinspielungen – Im Stil erzählt es nichts Neues, das man nicht bereits aus früheren Arbeiten von Emma Dante – zum Beispiel aus Le sorelle Macaluso – kennen würde. Doch bewegt eine Theaterstunde mit ihren großartigen Schauspielerinnen auch diesmal mehr als so manche breit ausgewalzte und kopflastige Dramaturgie der Avantgarde. Entsprechend lang der Beifall des Premierenpublikums.
Misericordia. Geschrieben und inszeniert von Emma Dante. Mit Italia Carroccio, Manuela Lo Sicco, Leonarda Saffi, Simone Zambelli. Koproduktion Piccolo Teatro di Milano (2020), Atto Unico/Compagnia Sud Costa Occidentale, Teatro Biondo di Palermo. Info hier