Die Saisoneröffnung der Mailänder Scala weist über das Bühnenerlebnis hinaus
Mailand (bis 29.12.21) -„Macbeth“ an der Mailänder Scala, das war in mehrfacher Hinsicht ein Erfolg. Musikalisch mit den Protagonisten Anna Netrebko (Lady Macbeth), Luca Salsi (Macbeth) und vor allem Ildar Abdrazakov (Banco) sowie dem Scala-Orchester unter der Leitung von Riccardo Chailly. Bewegend der Chor der schottischen Flüchtlinge mit „Patria oppressa – unterdrücktes Vaterland“. Verdi schrieb die Passage für die zweite Fassung des Macbeth, die 1865 uraufgeführt wurde, als Italien zwar vier Jahre zuvor einen ersten Schritt zur Nationalbildung getan hatte, aber der ganzen Nordosten mit Venetien, Trentino, Friaul/Triest noch zu Österreich gehörte und auch Rom ausgeklammert blieb.
Regisseur Davide Livermore verlegt in seiner Inszenierung das Schloss von Macbeth in eine Hochhausloft vor eine düstere, videobewegte Großstadtkulisse. Die Kampfszenen zu Beginn und eine Autofahrt erinnern an die TV-Serie „Gomorra“. Ein Fahrstuhl symbolisiert das Auf und Ab der Machtverhältnisse und wird schließlich zum Grab von Macbeth. Wobei Livermore geschickt das Heute (Bühnenbild, Kostüme) durch Krone, Schwerter und blutiger Fechtkampf mit dem Gestern verbindet. Er schafft so einen überzeugenden dystopischen Kommentar zur konfusen Gegenwart, auch wenn der Regisseur bei der Premiere von Teilen der Galerie ausgebuht wurde und die Kritik sich in Befürworter und Gegner der Inszenierung spaltete. Bei den Nachfolgeveranstaltungen blieben jedenfalls Missfallenskundgebungen aus.
Die Premiere war außerdem ein medialer Erfolg durch TV-Übertragung weltweit sowie die Ausstrahlung in Kinosälen. Dabei boten die TV-Kameras oft Perspektiven, die das Publikum im Saal nicht haben konnte. Etwa gleich bei der Ouvertüre aus dem Inneren eines Autos. Oder bei Lady Macbeths Schlafwandlerszene als Blick vom Dach des Hochhauses in die tiefe Straßenschlucht. Umgekehrt erwies sich die TV-Regie durch Großaufnahmen und Schnitte viel unruhiger als die Erfahrungen, die man im Saal machte.
Eine Premiere des Optimismus
Dieser „Macbeth“ war und ist aber vor allem ein Erfolg für die Theaterkultur des Landes, die endlich wieder in Präzensveranstaltungen nicht nur ihre Kreativität unter Beweis stellen kann. Sondern Kultur spielt in diese kritischen Phase der langen Pandemie eine führende Rolle, indem sie Gemeinschaft herstellt, Vertrauen schafft und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ausdrückt. Gerade Mailand ist als Lokomotive Italiens dabei, sich und dem ganz Land Mut zu machen: Von den erfolgreichen Design- und Modewochen dieses Herbstes bis zu ausverkauften Theatern hat der Zug wieder Fahrt aufgenommen. Und war es nicht auch die Scala, die nach dem Krieg ein Zeichen setzte, als sie im Mai 1946 wieder eröffnet wurde, während die Stadt noch in Trümmern lag? Ausgerechnet der düstere „Macbeth“ zum Auftakt der Spielzeit der Scala 2021/2022 war in dieser Hinsicht eine Premiere des Optimums. Doch fehlt es nicht an Stimmen, die vor einer gesellschaftlichen Entwicklung in zwei Geschwindigkeiten warnen: hier der Zug, der immer schneller rollt, dort abgehängte Wagen mit neuer wirtschaftlicher und kultureller Armut. Und an die Tür klopft Omikron.
Macbeth (Version von 1865). Musik: Giuseppe Verdi. Libretto: Francesco Maria Piave und Andrea Maffei. Mit (u.a.) Luca Salsi (Macbeth), Ildar Abdrazakov (Banco), Anna Netrebko (Lady Macbeth), Chiara Isotton (Dama di Lady Macbath), Francesco Meli (Macduff). Orchestra Teatro alla Scala, Leitung: Riccardo Chailly. Regie: Davide Livermore. Bühne: Giò Forma (Video D-Wok), Kostüme: Gianluca Falaschi, Choreographie: Daniel Ezralow, Licht: Antonio Castro. Produktion: Teatro alla Scala 2021. Gesehen (dritte Wiederaufführung) am 13.12.21
Siehe auch Stuttgarter Zeitung vom 17.12.21