LEBENSRAUM MIT QUALITÄT


Stadt und Corona (1): Die Pandemie stellt die Urbanistik vor Herausforderungen, die so neu gar nicht sind. Eine internationale Debatte, die auch in Italien intensiv geführt wird

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Die Metropole nach Corona – Mailand, Armani Werbung

 Mailand – Muss die Stadt sich neu erfinden? Der Coronavirus hat in Italien wie anderswo eine breite Debatte über die Zukunft urbaner Räume und das Verhältnis von Stadt und Land ausgelöst. „Basta con le città, tutti in campagna“ überschreibt il Sole 24 Ore  (8. März) einen Beitrag über die New Yorker Ausstellung „Countryside, The Future“, die Rem Koolhaas kuratiert hat. Italien ist besonders vom ländlichen Raum geprägt, es gibt fast 6000 Ortschaften mit weniger als 5000 Einwohnern. Rund 2300 davon sind von der Bevölkerung so gut wie verlassen. Könnten sie gerettet werden und zu neuem Leben erwachen, wenn sich Natur suchende Städter ihrer annehmen? Das jedenfalls schlägt Stefano Boeri in la Repubblica (21. April) vor: „Nei vecchi borghi c’è il nostro futuro“ Oder haben nicht längst die Städte, die sich in den vergangenen 30 Jahren immer mehr verdichtet haben, die Nase vorn, und der Virus wird daran nichts ändern? „Campagna? No, grazie“ kommentiert Carlo Ratti in il Foglio (8. Mai).

Seit geraumer Zeit diskutieren Architekten, Urbanisten, Landschaftsplaner über Stadtentwicklung unter dem Geflecht demographischer Prozesse, den Folgen des Klimawandels und den Chancen digitaler Umwälzungen. Mühsam setzt sich die Einsicht durch, dass dem „Bauen“ mit Natur und die Schaffung grüner Infrastrukturen in den Städten neben dem Konstruieren von Gebäuden und den Ausbau von Verkehrseinrichtungen eine gleichberechtigte Rolle zufallen muss. Biodiversität ist nicht nur eine Frage für ländliche Gebiete, die von industrieller Landwirtschaft geknebelt werden, sie wird entscheidend für die Lebensqualität – und damit für die Gesundheit (!) – gerade in urbanen Räumen.

Trennung von Gesundheit und Raumplanung

Die römische Zeitschrift Internationale (Heft 1359, 22.5.20) zitiert aus einer für den Herbst geplanten Veröffentlichung „The topography of wellness: health and the American urban landscape“. Darin untersucht die Autorin Sara Jensen Carr den Zusammenhang von Gesundheit und Stadtplanung von der industriellen Revolution bis heute. Zu ihren Ergebnissen gehört: im 19. Jahrhundert haben die Städte unter dem Druck von Cholera, Typhus und Tuberkulose Wasserläufe saniert und geräumige, von Natur geprägte Wohnviertel geschaffen. Als es der Medizin gelang, mit Hilfe von Impfungen, Antibiotika und Virenschutz die Gesundheitsprobleme in den Griff zu bekommen, hat die öffentliche Raumplanung die Gesundheit der Medizin überlassen und die Umwelt aus den Augen verloren. Die Auseinandersetzungen mit der Covid-19 Pandemie haben dieser Problematik auf dramatische Weise neue Aufmerksamkeit geschenkt.

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Angst, den Nahverkehr zu nutzen – Tram mit Sitzregelung

Dazu gehört saubere Luft. Dafür muss der Autoverkehr auf Benzin/Diesel-Basis drastisch reduziert werden. Nötig ist es, das Heizungssystems der meisten Privathaushalte auf nachhaltige Energienutzung umzustellen. Aber auch die öffentliche Hand ist gefordert, in Italien besitzt sie rund 1 Million Immobilien. Dazu gehört sauberes Wasser. Dafür müssen Flüsse und Kanäle renaturalisiert und die Böden durchlässiger gemacht werden, um ihre Filterkraft zu stärken und auch extreme Regengüsse aufzunehmen. Dazu gehört Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Aber jemand muss ihnen Raum abtreten. Abgesehen davon, dass jede Pflanze mehr ein Kieselstein auf dem langen Weg zur CO2-Neutralität ist. Das ist alles nicht von heute auf morgen zu erreichen. Doch ist eigentlich zu spät dran, wer jetzt erst anfängt, umzudenken.

Mailands grüne Strahlen

Zum Beispiel Mailand: Im globalen Wandel treffen zwei Phänomene aufeinander, die für die Zukunft unserer Städte prägend sind: die wachsende und sich weiter verdichtende Metropolregion bei gleichzeitiger Schrumpfung der industriellen Nutzung städtischer Flächen. Und während die Stadt sich in die Landschaft weitet, sucht die Landschaft Wege in die Stadt. Hier setzt das Mailänder Planungsmodell der „Raggi Verdi“, der grünen Strahlen an, das vom Deutsch-Mailänder Andreas Kipar und seinem Büro LAND (Mailand, Düsseldorf, Lugano) entwickelt wurde ( – hier zum Interview mit Andreas Kipar).

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Grüner Traum mit Fahrrad – Giardini Pubblici, eine urbane Oase 

Ausgehend von der Philosophie, die Menschen wieder mit der Natur zu verbinden, wollen die grünen Strahlen Bewohnern wie Besuchern die Möglichkeit geben, sich die Stadt wieder in ihrer Alltäglichkeit anzueignen. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Roller. Der „grüne Strahl“ will ein alternatives und informatives Bindeglied in einer bisher ausschließlich auf die Effizienz der schnellen Fortbewegung ausgerichteten Stadt sein. Zu ihm gehören Ruheräume und Platz für Unterbrechungen. Zuletzt etwas in den Hintergrund geraten, hat Corona die „Raggi Verdi“ wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Die Covid-19 Task Force des C40 Netzwerkes

Die große Mehrheit der Städter bewegt sich auf den Fußwegen, eine Minderheit in ihren Autos auf den Straßen. Doch der Minderheit wird heute viel mehr urbaner Raum eingeräumt als der Mehrheit. Städte wie Rom und Genua planen nun die „Mikromobilität“ (E-Scooter, E-Fahrrad, E-Roller) auszubauen. Straßenzüge wie der Mailänder Corso Buenos Aires erhalten Extraspuren für Fahrräder. Fußwege werden verbreitert, auch um Lokalen die Möglichkeit zu geben, Teile ihre Aktivitäten von Innen nach Außen zu verlagern, wo leichter Abstandsregelungen einzuhalten sind. Parks sollen für Bildungsveranstaltungen genutzt werden. Der Mailänder Stadtrat für Urbanistik möchte an Modelle anknüpfen, bei denen die Bewohner eines Stadtteils von der Haustür aus im Radius von 15 Minuten Fußweg alle notwendigen Serviceeinrichtungen erreichen kann.

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Raum für Biodiversität – Stadtwiese in Mailand (Parco BAM)

Im Jahr 2005 wurde in Kopenhagen die Vereinigung der C40 Cities mit dem Ziel der nachhaltigen Stadtentwicklung gegründet. Zum Netzwerk gehören heute weltweit 96 Städte, in denen mehr als 650 Millionen Menschen leben. Die Vereinigung hat jetzt eine Global Mayors COVID-19 Recovery Task Forceeingerichtet und dem Vorsitz dem Mailänder Bürgermeister Giuseppe Sala übertragen. Wenige Modelle wie Kopenhagen oder Amsterdam, so auch die einhellige Meinung in der sonst durchaus kontroversen italienischen Diskussion, genügen nicht mehr als Vorreiter. Wenn nicht die Mehrzahl der Städte mitzieht, droht unseren Metropolen ein Lebensraum ohne Qualität. Und den Happy Few bliebe wirklich nur noch die Flucht aufs Land, wo sie das Dekameron deklamieren können.

Siehe auf Cluverius: „Natur ist ein soziales Mediumein Gespräch mit dem Mailänder Landschaftsarchitekten und Urbanisten Andreas Kipar