NORMALITÄT DES BÖSEN


Stefano Massini bringt in Mailand eine Textmontage aus Hitlers „Mein Kampf“ auf die Bühne, als wäre das Buch ein Bildungsroman

© MasiarPasquali/Piccolo Teatro

Im Kampf mit der historischen Last eines Textes – Stefano Massini auf der Bühne des Piccolo Teatro

Mailand – „Ich wollte nicht Beamter werden, nein und nochmals nein.“ Adolf Hitler schrieb den ersten Band seiner autobiografisch geprägten politisch-ideologischen Propagandaschrift „Mein Kampf“ 1924 während einer Festungshaft nach dem gescheiterten Novemberputsch 1923. Der italienische Schriftsteller und Dramatiker Stefano Massini hat 100 Jahre danach den Theatertext „Mein Kampf“ (Untertitel „Nach Adolf Hitler“) verfasst, der im Frühjahr beim Einaudi-Verlag als Buch herausgegeben wurde und in Zusammenarbeit mit dem Teatro Stabile Bolzano gerade am Piccolo Teatro in Mailand seine Bühnenpremiere erlebte. Massini (geb. 1975), der auch im deutschen Sprachraum durch sein Stück (und Buch) über die Lehman-Brothers bekannt geworden ist, steht dabei selbst auf der Bühne. So hatte es ihm bereits sein Mentor Luca Ronconi geraten, mit dem Massini noch kurz vor dessen Tod 2015 erste Ideen zu dem von Anfang an als Monolog angelegten Stück diskutiert hatte.

Fasziniert von Hitlers Herkommen als „Underdog“ entwirft Massini eine Art kleinen „Bildungsroman“ vom gar nicht so unaufhaltbaren Aufstieg des Adolf H. aus Wut und Verzweiflung. Es entsteht das Bild eines heranwachsenden rebellischen Kleinbürgers, der die „Lügen der Demokratie“ ebenso verachtet wie das „Krebsgeschwür“ derjenigen, die „nicht unsere Namen tragen“, sondern „Austerlitz, Moses, Ellenbogen“ heißen. Der den Krieg als eine Methode zur „Auswahl“ begreift, wo nur der Starke, „weil er es verdient“, überlebt, während der Schwache untergeht. Über eine Rolle als V-Mann einer Aufklärungsabteilung der Reichswehr kommt Hitler schließlich in engen Kontakt mit der rechtsradikalen Deutschen Arbeiterpartei (DAP) und wird sich seiner Redekunst bewusst und der Fähigkeit, mit seinen kruden Ideen Zuhörermassen zu faszinieren: „Zweitausend heute Abend im Hofbräuhaus“. Mit diesem Ende eines kaum 90 Minuten langen Stückes ist Hitler nach Massinis Erzählung dort angekommen, wo ein Einzelner beginnen kann, Geschichte auf einem bis dahin weißen Blatt zu schreiben. Heute, so der Autor in einem Interview, würden wir eine Phase durchleben, „in der Wut, Geschrei, Aggressivität erneut politischen Brennstoff bilden.“

Auf einer hell erleuchteten weißen Fläche, die wie eine leere Buchseite schräg über die für einen Monolog viel zu große Bühne des Piccolo Teatro Strehler ragt, rezitiert Massini als Ich-Erzähler Hitler mit einer rhythmisch aufbereiteten Textmontage nicht nur autobiografische Momente aus „Mein Kampf“, sondern auch aus Hitlers Reden oder seinen „Tischgesprächen im Führerhauptquartier“. Von Anfang an macht Massini in einem Prolog klar, dass nichts beschönig werden soll, sondern das absolut Böse erzählt werden muss, das sich in den Worten eines Buches verbirgt – Worten, die Taten wurden.

Kampf um „Mein Kampf“

Doch so, wie sie angelegt ist, geht diese Textmontage über eine Hannah Arendt paraphrasierenden „Normalität des Bösen“ wenig hinaus. Italienische Medien bemängelten in erste Kritiken auch die Unterbewertung des Antisemitismus im Stück. Der Mailänder Corriere della Sera sprach gar von einem „eintönigen, langweiligen, nutzlosen“ Text. Die Repubblica aus Rom wünschte sich mehr „Subversives“, um das Publikum heute wachzurütteln. Und der Sole 24 Ore (Mailand) befürchtet, dass die Zuschauer durch Massinis Vortrag mehr von der Rhetorik eines Hitlers beeindruckt werden als von der Gefährlichkeit seines Denkens (und späteren Handelns).  Aber wer weiß: 90 Minuten füllen eigentlich nur einen ersten Akt – und wie Hitler 1926 dem ersten einen zweiten Band von „Mein Kampf“ folgen ließ, könnte Stefano Massini genauer zeigen, wie die verachtenswerte Gedankenwelt eines Adolf H., der leider kein Beamter wurde und deshalb die Menschheit ins Unglück stürzte, ihre Gefahr auch für ein Heute nicht verloren hat. Wir jedenfalls wünschen uns einen zweiten Akt dieses bislang nicht ganz gelungenen, jedoch mutigen Kampf um „Mein Kampf“

„Mein Kampf. Da Adolf Hitler.“ Von und mit Stefano Massini. Produktion: Teatro Stabile Bolzano und Piccolo Teatro Milano in Zusammenarbeit mit der Fondazione Teatro della Toscana.  Bis 27.10. Piccolo Teatro Strehler, Mailand. Danach auf Tournee: Parma (29. u 30. 10.), Trento (6. bis 11. 11.), Florenz (12. Bis 17. 11.) sowie weitere Stationen. Info hier.

Der Text ist in kürzerer Form auch in der Stuttgarter Zeitung (30.11.24) erschienen

Und hier zum Trailer.

Die Buchveröffentlichung:

Stefano Massini: Mein Kampf. Da Adolf Hitler. Collezione di teatro. Einaudi Editore, Torino. 72 pp., 11,- €