Melania G. Mazzucco entwirft mit ihrem Roman „Die Villa der Architektin“ ein farbenreiches Fresko der Gesellschaft und der Kunstszene im barocken Rom des 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht Plautilla Bricci, die erste Architektin der europäischen Kunstgeschichte.
Rom/Mailand – Warum einen historischen Roman wie „Die Villa der Architektin“ von Melania G. Mazzucco lesen, der jetzt im Folio Verlag in deutscher Übersetzung erschienen ist? Rom führt Europa im 17. Jahrhundert vor, wie man eine Metropole der Gegenreformation gestaltet. Die Päpste, die Monarchen gleich regieren, lassen mit Aufträgen für prächtige Kirchenbauten wie für üppig ausgestaltete Familienpaläste eine barocke Stadtlandschaft wachsen. Und der römische Adel macht es ihnen nach. Eine opulent sinnliche Bildersprache zeigt in der Spannung von Lebenslust und Vanitas kraft- und ausdrucksvoll, wie richtiger Glaube auszusehen habe (und wie bedeutungsvoll die jeweils herrschende Familie sei). Während anderswo in Europa Katholizismus und Protestantismus sich kriegerisch bekämpfen, der Dreißigjährige Krieg Landschaften verwüstet, versetzen Künstler wie Bernini, Borromini oder Pietro da Cortona die Stadt Rom, die machtpolitisch im Abseits liegt, in einen ästhetischen Taumel. Nur Künstler? Gibt es keine Künstlerinnen?
Na ja, es gibt die eine oder andere Malerin wie Artemisia Gentileschi, die aber Ausnahme bleibt. Frauen müssen sich in einer extrem patriarchalischen Gesellschaft mit ihrer Kunst in der Regel auf kleine Formate beschränken oder gar aufs namenlose Handwerk verlegen. Freskenmalerei ist ihnen grundsätzlich verboten. Und Architektinnen gibt es schon gar nicht. Kann man sich im barocken Rom eine Frau vorstellen, die auf einer Baustelle das Sagen hat?
Wenn man die Geschichte der Plautilla Bricci gelesen hat, die Melania G. Mazzucco in ihrem Roman erzählt, dann wird man sich das vorstellen müssen. Plautilla ist keine literarische Erfindung. „Alle Figuren, die in diesem Buch in Erscheinung treten, haben wirklich gelebt“, schreibt die Autorin in einem Nachwort.
Plautilla Bricci, geboren 1616 in Rom, war nicht nur eine talentierte Malerin und als Künstlerin Mitglied der Accademia di San Luca, sondern leitete in den 1660er-Jahren auch als Architektin der Villa Benedetta eine Baustelle auf dem Gianicolo-Hügel und verewigte sich dort auf dem Grundstein der von ihr entworfenen Anlage. Das aber gehörte zu den eher unter der Hand verbreiteten Erkenntnissen der jüngeren Kunstgeschichte, zumal die Villa in den Wirren der italienischen Einheitskriege Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend zerstört worden war. Die Rolle Plautillas blieb ein Thema von Fachdebatten. In einem Sammelband (2016) hatte etwa die deutsche Kunsthistorikerin Ilaria Hoppe den Essay „Zum Verhältnis von Architekturgeschichte und Geschlecht im römischen Seicento“ veröffentlicht.
Plautilla Bricci baute außerdem in der Kirche San Luigi dei Francesi eine dem Heiligen Ludwig gewidmete Seitenkapelle um und schuf das Altarbild gleich mit. Das ist bis heute die einzige Kapelle einer römischen Kirche geblieben, die von einer Frau entworfen wurde. Touristen lassen sie meist links liegen und ziehen schnell weiter zum weltberühmten Matthäus-Gemäldezyklus von Caravaggio. Erst mit Mazzuccos Roman, der 2019 bei Einaudi unter dem Titel „L’architettrice“ in der Originalfassung erschien und wie eine Bombe einschlug, wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst, wer diese Plautilla Bricci war: Die erste Architektin in der europäischen Neuzeit.
Neue Forschungen und ein neues Todesjahr (1692 statt 1705)
Auch die Forschung kam wieder in Gang. Im Winter 2021/22 wurde Plautilla in Rom (Gallerie Barberini Corsini) unter Mitwirkung der Schriftstellerin eine Ausstellung gewidmet. Gerade kam ein Nachfolgeband zur Ausstellung mit Dokumenten heraus*. Sie korrigieren ihr Todesjahr von 1705 auf das Jahr 1692. Was in der soeben unter dem Titel „Die Villa der Architektin“ erschienenen deutschen Ausgabe noch nicht berücksichtigt werden konnte.
Ein plebejisches Genie
Jetzt also können sich auch deutschsprachige Leser von Melania G. Mazzucco in der wundervollen Übersetzung von Karin Fleischanderl in die römische Gesellschaft und das Leben einer Familie im Rom des 17. Jahrhundert einführen lassen. Genauer gesagt von Plautilla Bricci selbst, die als Ich-Erzählerin Leserinnen und Leser bei der Hand nimmt. Im ersten Teil ist es der pralle Alltag der Familie Bricci, der vom Geschick des Vaters Giovanni Bricci (1579-1645) geprägt wird. Er verdient sich sein Einkommen als Maler, aber auch als Komödiendichter oder Verfasser von Informationsblättern (und ist damit so etwas wie Journalist). Giovanni, den die Autorin liebevoll schildert, stammt aus der Familie eines Handwerkers, eines Matratzenmachers, und fasst mit „plebejischem Genie“ als Autodidakt durch Talent und Lust am Lernen in der unteren Schicht der Künstlerszene Fuß. Er unterrichtet auch Plautilla, ihre Schwestern und ihren Bruder in der Malerei.
Man muss häufig mit Sack und Pack auf einfache Wagen geladen umziehen. Die Familie lebt in engen Verhältnissen, Wohnräume sind zugleich Arbeitsräume. Armut und Tod, aber auch Lebensfreude und Solidarität gehören zum Alltag. Besonders gelungen ist ein Kapitel über die Pest in Rom 1656, die unter der Leitung eines englischen Arztes mit strengen Abstandsregelungen und Desinfizierungen durch Essig erfolgreich bekämpft werden konnte. „Die Pest veränderte alles. Klänge, Gewohnheiten, Gerüche, die Landschaft. In den Palästen der Fürsten und Grafen wurden die Fensterläden geschlossen.“ Unsere von Covid trainierten Gedanken lesen einen Text mit, der vor der Pandemie geschrieben wurde.
Exzentrisch und außergewöhnlich
Plautilla bleibt auch wegen eines mysteriösen epileptischen Leidens ehelos. In der zweiten Hälfte des Romans wird erzählt, wie sie vor allem durch ihre Bekanntschaft und Verbindung mit dem Abt Elpidio Benedetti (1610-1690), der in Diensten des französischen Kardinals und Diplomaten Jules Mazarin (1602-1676) steht, Zugang zu wichtigen Aufträgen als Malerin und schließlich als Architektin bekommt. Mit der Villa Benedetta und ihrer bugartig ausschwingenden Fassade, die in Reiseberichten als „exzentrisch und außergewöhnlich“ beschrieben wurde, schafft Plautilla ein Denkmal der Freundschaft zu Elpidio. „Der Abt und ich waren stolz auf sie wie späte Eltern, die eine unerwartete Gnade erfahren hatten.“
Wie tief, wie intim diese Beziehung zwischen der unverheirateten Künstlerin und dem Abt wirklich war, bleibt offen. Plautilla lässt Elpidio sagen: „Diener Gottes und Politiker heiraten nicht. Auch der Beruf des Malers und die Hinwendung zur Kunst sind eine Art Religion, die mit der Ehe nicht vereinbar sind.“ Eine Art „link“ zwischen beiden bildet die Karmelitin Eufrasia della Croce, Schwester von Elpidio, Malerin und lebenslange Freundin von Plautilla. Zugleich hat das gesellschaftliche Umfeld Probleme damit, dass hier eine Frau in eine Männerdomäne einbricht. Versucht wird etwa, Plautillas Bruder als Architekten auszuweisen – und sie als Gehilfin zu degradieren.
Historische Romane können durch Daten und Fakten geschient eine Epoche lebendig und zugleich glaubhaft porträtieren. Das gilt umso mehr, wenn das freie Erzählen sich darauf beschränkt, Lehrstellen der real gesicherten Handlung zu füllen. Und sich auch im „Erfinden“ auf historische Belege stützt und eine gleichsam zeitgeschichtlich geerdete Fantasie benutzt. So hat sich Melania G. Mazzucco über viele Jahre ausgehend von der Geschichte der Plautilla Bricci mit dem gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Leben 17. Jahrhundert in Rom auseinandergesetzt. Die Schriftstellerin hat einen festen Platz in der italienischen Literaturszene. Mit dem Roman „Vita“ über italienische Emigranten in den USA, der wie andere ihrer Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurde, gewann die heute 58-jährige Römerin den renommierten Strega-Preis. In Veröffentlichungen über Tintoretto hatte sie sich bereits gründlich historischen Themen gewidmet.
Alles kann Kunst sein
Wenn man das Glück hat, von der Autorin selbst auf Plautillas Spuren durch Rom geführt zu werden, kann man die Leidenschaft erleben, die Mazzucco immer noch dem Thema abgewinnen kann. Zum Beispiel führt sie zur Kirche San Francesco a Ripa unweit des Tibers in der vom Massentourismus abgelegenen Seite von Trastevere. In diesem Viertel hatte Plautilla ihren letzten dokumentierten Wohnsitz. Etwa zu der Zeit, als die Künstlerin hier her zog, schuf der greise Gian Lorenzo Bernini in der Kirche mit der Statue „Verzückung der seligen Ludovica Albertoni“ ein spätes Doppel seiner höchst sinnlichen „Verzückung der Heiligen Theresa“. Er legte sie auf eine in Marmor superrealistisch nachgeformten alte Matratze, was die Ich-Erzählerin Plautilla bei einem Besuch der Kirche zusammen mit ihrem Bruder in Andenken an ihre Familiengeschichte und an den Großvater kommentiert: „Bernini hatte einen Gegenstand des täglichen Gebrauchs geadelt, denn alles kann Kunst sein. Diese Matratze versöhnte uns mit unserer Geschichte und mit uns.“
Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen (2024). 464 Seiten (plus 4 Farbseiten), 28 Euro (E-Book 19,99 Euro)
Hinweis des Verlages: „Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel „L’architettrice“ beim Verlag Giulio Einaudi, Turin, erschienen. Auf Anregung der Autorin wurden „Intermezzi“ genannte Teile in der deutschen Ausgabe nicht übersetzt. Diese erzählen die Zerstörung der Villa Benedetta bei Gefechten in den Monaten Mai bis August 1849, als Interventionstruppen der Französischen Republik und der Spanischen Monarchie die von Revolutionären errichtete Repubblica Romana zerschlugen, um die Herrschaft des Papstes wiederherzustellen.“
Jüngste Veröffentlichung zur Forschung:
*Nuove scoperte su Plautilla Bricci, Artista universale nella Roma del Seicento. Atti della giornata di Studi a cura di Yuri Primarosa. Roma, Gallerie Nazionali Barberini Corsini, aprile 2022. Editori Paparo, Roma (2024). 186 Seiten, 30 Euro
Der Text ist in einer kürzeren Fassung in der Stuttgarter Zeitung vom 26. August erschienen.