Nach den Schönheiten Italiens begannen die Deutschen vor rund 50 Jahren die literarischen Landschaften südlich der Alpen zu entdecken, während deutschsprachige Literatur im Bel Paese weiterhin ein Schattendasein fristet. Anlässlich der Buchmesse Frankfurt ein Blick auf die deutsch-italienischen Literaturbeziehungen
Mailand – Italien und die Literatur – das ist ein merkwürdiges Kapitel. Einerseits ist Italien ein leseschwaches Land, in dem die Hälfte aller Bewohner kein einziges Buch im Jahr kauft. Andererseits hat es eine lebhafte Literaturszene mit mondänen Literaturpreisen (Strega, Campiello etc). Es gibt eine lebendige Buchmesse wie den Salone del Libro im Frühjahr in Turin und neben regionalen Veranstaltungen eine zweite Messe für mittlere und kleinere Verlage im Spätherbst in Rom sowie die internationale Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna. Dazu kommen von Nord bis Süd die vielen Buch- und Lesefestivals – meist lokal ausgerichtet oder die großen in Mantua (Festivaletteratura) oder in Mailand (Bookcity).
Es gibt eine Verlagsszene zwischen Vielfalt und Konzentration, zwischen alt und neu: Rund 5100 Verlage produzieren pro Jahr 80.000 Titel, aber über die Hälfte des Umsatzes im Buchhandel plus Online (gesamt 1,8 Milliarden Euro) geht auf des Konto von nur vier großen Verlagsgruppen (Mondadori, Mauri Spagnol, Giunti, Feltrinelli). Als Verlagshauptstadt gilt Mailand, wo nicht nur die meisten Bücher hergestellt werden, sondern prozentual auch die meisten Buchhandlungen zu Hause sind und wo es die größte Leserdichte gibt. Und gerade hier ist es besonders schmerzhaft, wenn immer mehr kleinere unabhängige Handlungen unter dem Druck von Amazon & Co (sowie einer sich weiter digitalisierenden Lesekultur) aufgeben müssen.
Mit insgesamt rund 70.000 Beschäftigten bildet der italienische Buchhandelsbereich noch vor TV, Video und Musik den führenden Sektor im nationalen Kulturbetrieb, doch der Buchmarkt stagniert nicht erst seit gestern. So wünscht sich der italienische Verlegerverband AIE vom neuen Kulturminister Alessandro Giuli mehr Aufmerksamkeit (und strukturelle wie finanzielle Unterstützung) im Inland. Über die eigenen Grenzen hinaus fördert Italien dagegen großzügig Übersetzungen durch das Außen- wie das Kulturministerium mit mehreren Förderprogrammen.
Wenig Übersetzungen aus dem Deutschen
Ein ebenso merkwürdiges oder zumindest widersprüchliches Kapitel bilden die deutsch-italienischen Literaturbeziehungen. Titel aus dem deutschsprachigen Raum tun sich schwer auf dem italienischen Markt. Man findet sie, wenn sie überhaupt übersetzt werden, ganz selten auf Bestsellerlisten. Neuerscheinungen werden wenig rezensiert. Auch wenn die deutsche Sprache in diesem Jahr programmatisch im Mittelpunkt des Turiner Salone del Libro stand, wurde zwar ein Kafka ausführlich gefeiert, Gegenwartsautorinnen und Autoren aber nur am Rande wahrgenommen.
Das gilt ebenso, wenn man die Literaturteile der wichtigsten Tageszeitungen durchblättert. La Lettura, die sonntägliche Kulturbeilage des Corriere della Sera, veröffentlicht regelmäßig auf einer Seite neben den Bestsellerlisten des Landes auch jeweils die drei meist verkauften Titel in den USA, Großbritannien und Frankreich. In Deutschland hat sich der mit Abstand größte Buchmarkt in Europa entwickelt, doch die Aufmerksamkeit dafür und für deutschsprachige Werke hält sich in Italien in Grenzen – was sicher auch mit der deutschen Sprache zu tun hat, die in Italien eher ein Nischendasein führt.
Der Boom italienischer Literatur im deutschen Sprachraum
Umgekehrt hat es in den vergangenen 50 Jahren – wenn auch in Wellen – im deutschen Sprachraum ein vergleichsweise hohes Interesse an italienischen Autorinnen und Autoren gegeben. Einen ersten Boom konnte man in den 1970er und 1980er-Jahren verzeichnen. Er wurde ausgelöst durch so unterschiedliche Phänomene wie die Veröffentlichung der Freibeuterschriften Pasolinis in deutscher Sprache und die Entdeckung von Autoren wie Italo Calvino oder Antonio Tabucchi. Dazu kamen Einblicke von Leonardo Sciascia aus dem Süden oder von Gianni Celati aus dem Norden – und nicht zu vergessen die Bestseller eines Umberto Eco.
Nachdem die Deutschen Italien als Urlaubsland entdeckt hatten, entdeckten sie jetzt seine Literaturlandschaften. Italienische Autorinnen und Autoren der Gegenwart von Dacia Maraini bis Andrea Camilleri haben einen festen Platz in deutschen Buchhandlungen, die der jüngeren Vergangenheit (Bassani, Levi, Pavese und Co.) werden weiterhin aufgelegt. Und eine Vereinigung wie die Deutsch-Italienischen Kulturgesellschaften VDIG pflegt etwa mit ihrem Lesemarathon kontinuierlich jedes Jahr den Zugang zu italienischer Literatur. Ein Lesemarathon mit deutschsprachigen Titeln in Italien wird man vergeblich suchen. So bleibt es allein den (immer weniger werdenden) Goethe-Instituten mit immer weniger finanziellen Mitteln oder den kleinen deutsche-italienischen Kulturvereinen (ICIT/ACIT) überlassen, hier gleichsam aus einer Nische heraus gegenzusteuern.
Ein deutsch-italienischer Übersetzerpreis wird gemeinsam von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien und dem italienischen Kulturministerium im Wechsel an Vertreter aus dem einen oder anderen Land vergeben. Doch der Jahresrhythmus der Vergabe hat sich inzwischen auf einen Zweijahresrhythmus verlangsamt. Und während er in Deutschland immerhin ein kleines Medienecho hat, wird er in Italien so gut wie gar nicht wahrgenommen. Die deutsche Bundesregierung trägt dazu wenig zur Unterstützung von Übersetzungen in andere Sprachen bei, gerade gab es eine skandalöse Kürzung der Fördermittel für Übersetzerinnen und Übersetzer.
Italien als Gastland auf der Franfurter Buchmesse 2024
Nach 1988, als Italien zum ersten Mal Gastland der Frankfurter Buchmesse war, wurde es jetzt erneut als offizieller Gast nach Frankfurt geladen. Im wellenartigen Auf und Ab der Wahrnehmung wird damit dem in den vergangenen Jahren wieder gestiegenen Interesse an der italienischen Literatur im deutschen Sprachraum Rechnung getragen. Die Einladung nach Frankfurt hat Italien konsequent dazu genutzt, die Übersetzungsförderung zu intensivieren. So konnten durch staatliche Unterstützung allein in den letzten vier Jahren im deutschen Sprachraum 600 Titel italienischer Autorinnen und Autoren veröffentlicht oder zur Veröffentlichung vorbereitet werden. Man probt jetzt in Frankfurt den großen Auftritt – hier zur Ehrengast Homepage –, was nicht ohne innere Widersprüche abläuft – hier ein Beitrag von Birgit Schönau in der Zeitschrift Das Parlament. Doch die italienischen Debatten um „kulturelle Hegemonie“ und über die Kulturpolitik der Rechtsregierung sind jetzt nicht unser Thema (- wir kommen später darauf zurück).
Es gibt im literarischen Italien Interessantes zu entdecken und zu fördern, was durch die höchst verdienstvolle Arbeit vieler Lektorate von Hanser bis Suhrkamp, von Piper bis Diogenes regelmäßig ans Tageslicht kommt. Eine Doppelfunktion übt der kleine Folio Verlag aus, der sowohl in Italien (Bozen) als auch im deutschen Sprachraum (Wien) ein Standbein hat und mit einem vielseitigen Programm in Franfurt überzeugen möchte. Und immer wieder gelingt es auch kleineren nicht gerade auf Italien spezialisierten Verlagen Perlen zu finden. Wie etwa den Roman von Davide Coppo über einen Jugendlichen aus Mailand, der ins politisch rechte Milieu abrutscht („Der Morgen gehört uns“), der gerrade bei Kjona (München) in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Vorne weg: Wagenbach
Die Hauptrolle spielt aber der Berliner Verlag Klaus Wagenbach, der seit Jahrzehnten schwerpunktmäßig der italienischen Literatur wie dem kulturellen Sachbuch aus Italien eine Heimat gibt. Es ist der deutschsprachige Verlag „mit der umfangreichsten Liste italienischer Autorinnen und Autoren“, wie die Leiterin Susanne Schüssler nicht ohne Stolz in einem „Lesebuch Italien“ unterstreicht, das jetzt zur Buchmesse (und anlässlich des 60. Verlagsjubiläums) erschienen ist. Da finden zeitgenössische Arbeiten wie von Michela Murgia, Francesca Melandri oder Mario Desiati eine Bühne ebenso beleiben moderne Klassiker von Elsa Morante oder Natalia Ginzburg präsent. Nicht zu vergessen die Reihe mit den „literarischen Einladungen, die u .a. nach Rom oder Mailand, Neapel oder Venedig, Sardinien oder Apulien und Basilikata führen. Dazu auch politisch historische Arbeiten, in diesem Jahr etwa „Der perfekte Faschist“ von Viktoria de Grazia. Und dann das Jahrhundertwerkt: die kritische Edition Giorgio Vasari, mit der Wagenbach Verlagsgeschichte geschrieben hat.
Doch tauchen in Italien immer wieder neue Namen und Talente auf, die durch das Raster der traditionellen Verlagshäuser in Deutschland, Österreich oder der Schweiz fallen – was den Reichtum der italienischen Szene unterstreicht. Hier versuchen neben dem mittelständischen Unternehmen Wagenbach kleinere Verlage nicht ohne unternehmerisches Risiko kulturelle Basisarbeit zu leisten, indem sie sich konzentriert um Italien kümmern.
Brückenbauer: Nonsolo und die Edition Converso
Dazu gehören etwa der Nonsolo Verlag (Freiburg) und die Edition Converso (Karlsruhe). Beide Unternehmen werden von Frauen geleitet: Die Römerin Alessandra Ballesi-Hansen, die in Freiburg eine zweite Heimat gefunden hat, und die Karlsruherin Monika Lustig, die über zwei Jahrzehnte in Italien gelebt hat. Alessandra Ballesi-Hanser, die in diesem Jahr mit dem „Premio Culturale“ der Vereinigung der Deutsch-Italienischen Kulturgesellschaften (VDIG) ausgezeichnet wurde, gibt bislang unbekannten Stimmen wie Paolo di Paolo (Rom 1983) oder Alessandra Carati (Monza 1974) im deutschen Sprachraum ein Bühne.
Monika Lustig, die sich vor ihrer Verlagstätigkeit einen Namen als Übersetzerin aus dem Italienischen machen konnte, erhielt gerade mit der Edition Converso den Verlagspreis Literatur des Landes Baden-Württemberg. Sie blickt dabei über ihren Schwerpunkt Italien hinaus und gibt Belletristik, erzählende Sachbücher und Lyrik auch aus den Regionen rings um das Mittelmeer in deutscher Übersetzung heraus (zum Beispiel eine wundervolle Kulturgeschichte des Strickens der Griechin Katerina Schiná). Bereits 2021 hatte die Edition Converso den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung sowie den Deutschen Verlagspreis erhalten, mit dem eine Reihe unabhängiger Verlage ausgezeichnet wird. Eine Reihe, zu der in diesem Jahr auch Nonsolo gehört.
Literatur als kulturübergreifende Therapie
In Frankfurt präsentiert die Edition Converso 16 Bücher von acht Autorinnen und Autoren, die in einem kleinen Sonderdruck „Literarisches Italien“ vorgestellt werden. So hat Monika Lustig etwa mit Marino Moretti (1885-1979) einen Klassiker aus der Romagna (Cesenatico) entdeckt. Und ihr ist es zu verdanken, dass ein Autor wie Fabio Stassi (Rom 1962) den Weg zurück in den deutschen Sprachraum gefunden hat, nachdem er bei Kein & Aber (Zürich) vor Jahren einen ersten Auftritt hatte. Stassi fasziniert mit einem neuen Kriminalroman über einen merkwürdigen „Biblio-Therapeuten“, der Ratsuchenden Hilfestellungen gibt, indem er Literatur verschreibt – und dann gleichsam widerwillig in die Rolle eines Detektivs schlüpfen muss („Die Seele aller Zufälle“). Ist es Zufall, dass der Autor als Bibliothekar der Universitätsbibliothek Rom seinen Lebensunterhalt verdient und dazu so anregende Essays wie über „Dante, die Dichtung und den Schmerz“ schreibt? Das deutsche P.E.N.-Zentrum wird Fabio Stassi jedenfalls in diesem Jahr mit dem Hermann-Kesten-Preis ehren. In Italien erscheint gerade bei Sellerio seine neueste Arbeit „Bebelplatz. La notte dei libri bruciati“ (Die Nacht der verbrannten Bücher).
Einen Verlag zu gründen, ist gewiss ein Wagnis. Auf dem Höhepunkt der ersten Italo-Welle 1980/1990 entstanden in Deutschland kleinere Verlage (etwa ComMedia & Arte in Stuttgart), die sich ganz dem Italienischen zuwandten, aber meist nicht lange durchhielten. Deshalb kann man Einrichtungen wie der Edition Converso oder Nonsolo (beide 2017/2018 gegründet) nur Stehvermögen und einen langen Atem wünschen. Denn das Leben zwischen der deutschen und der italienischen Welt hat Alessandra Ballesi-Hansen gezeigt, „dass das Bild einer fremden Kultur in der öffentlichen Meinung sehr oft von Klischees bestimmt wird, die auf oberflächlichen Kenntnissen basieren und wenig mit der Realität zu tun haben.“ In einer Selbstdarstellung ihres Verlages unterstreicht sie deshalb:
„Dieser Tendenz möchten wir entgegenwirken. Und zwar auf die einzige erfolgversprechende Art und Weise: nämlich durch das Schlagen von Brücken zwischen den Kulturen bzw. durch das Einreißen der Mauer an Misstrauen und Unverständnis, welche diese allzu oft trennt.“
Oder Susanne Schüssler die im „Lesebuch Italien“ beschreibt, wie Wagenbach unermüdlich nach neuen, jungen Stimmen sucht. Nach einer Generation, „die geprägt ist vom System Berlusconi – und gerade deshalb Fragen stellt an die eigene Geschichte und Tradition, die den Reibepunkt sucht zwischen altem und heutigem Italien.“ Es ist vielleicht diese Suche, es sind vielleicht diese Fragen, die heute im deutschen Sprachraum auf fruchtbaren Boden fallen wie einst die der Freibeuterschriften von Pasolini.
In kürzerer Form ist ein ähnlicher Beitrag in der Stuttgarter Zeitung am 16.10.24 erschienen