Ein Gespräch mit Dacia Maraini über Ausflüge in Schattenwelten, die Rolle der Aktualität für Literatur und einen komischen Vogel in ihrem jüngsten Roman „Das Mädchen und der Träumer“
Rom – Dacia Maraini, die im November 1936 in Fiesole als Tochter des Ethnologen Fosco Maraini und der sizilianischen Malerin Topazia Alliata geboren wurde, wird gerne als die große alte Dame der italienischen Literatur bezeichnet. Ihre größten Erfolge sind der historische Roman „Die stumme Herzogin“ (1991) oder „Bagheria“ (1994), ein Erinnerungsbuch über ihre Jugendzeit auf Sizilien. Dacia Maraini hat sich viele Jahre als Dramaturgin wie Organisatorin dem Theater gewidmet und in der Frauenbewegung engagiert. Ihr jüngster Roman „La bambina e il sognatore“ (Rizzoli 2015) ist jetzt im Folio Verlag unter dem Titel „Das Mädchen und der Träumer“ auf Deutsch erschienen (siehe auf Cluverius: „Spurlos verschwunden“). Bei einem Besuch in ihrer römischen Wohnung redet sie über das neue Buch aber auch über die Schule, über Träume oder über die Pflicht der Schriftsteller, zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen.
Der Protagonist in dem neuen Buch ist ein Grundschullehrer. Bislang standen allein Frauen in Ihren Romanen und Erzählungen im Vordergrund. Warum jetzt zum ersten Mal eine männliche Stimme, die erzählt?
Dacia Maraini: „Ja, das ist das erste Mal. Ich werde häufig in Schulen geladen, um mit den Jugendlichen zu diskutieren, in Gymnasien aber auch in Grundschulen. In den Grundschulen unterrichten vor allem Frauen. In der italienischen Gesellschaft ist noch immer die Frau für die Erziehung von kleinen Kindern zuständig, erst wenn die Kinder größer werden, tritt der Mann auf die Bildfläche. Als ob es ‚unmännlich’ wäre, sich um kleinere Kinder zu kümmern. Das ist in der Familie so wie in der Schule. Doch zu meiner Überraschung habe ich seit einiger Zeit in Grundschulen auch junge Männer als Lehrer kennen gelernt. Gewiss sind sie immer noch unterrepräsentiert, aber sie widmen sich oft ihrer Arbeit mit einer bewundernswerten Leidenschaft, obgleich sie schlecht bezahlt werden und ihre Rolle in der Gesellschaft wenig Anerkennung erfährt. Daher kommt die männliche Stimme im Roman.“
War es schwierig, sich mit ihr zu identifizieren?
Maraini: „Am Anfang dachte ich so. Aber dann fiel es mir doch verhältnismäßig leicht. Wenn man Stereotype aus den Gefühlen ausklammert, geschlechtsspezifische Stereotype, bleiben Sensibilitäten, die allgemeinmenschlich sind. So haben etwa Lehrerinnen und Lehrer dieselben Probleme im Umgang mit Schülern: wie soll man mit ihnen kommunizieren, wie sie interessieren? Mein Lehrer entdeckt, dass man es schafft, wenn man ihnen Geschichten erzählt. Und so bricht er auch immer wieder aus dem Lehrplan aus, was ihm dann von der Schulleiterin zum Vorwurf gemacht wird.“
Kritik am Schulsystem
Der Roman liefert reichlich Material für eine Kritik an dem gegenwärtigen Schulsystem.
Maraini: „Die Schule wird heute als Institution allein gelassen. Eine hektische Folge von Reformen hat sie ihrer zentralen gesellschaftlichen Rolle beraubt. Die Schule hat jede Autorität verloren. Wenn Lehrer Schulkinder zur Ordnung rufen oder schlechte Noten geben, müssen sie damit rechnen, dass die Eltern sich über sie beschweren, statt ihre Kinder in die Pflicht zu nehmen. Wozu soll die Schule erzielen? Um später mal einen Beruf zu finden? Oder um kommende Staatsbürger herauszubilden – was für mich die wichtigste Aufgabe wäre? Also lehren Verantwortung zu tragen, sich im Umgang mit anderen zu bewähren und Solidarität und Toleranz einzuüben. Aber Lehrer, die zusammen mit der Wissensvermittlung staatsbürgerliches Bewusstsein wecken wollen, können das praktisch nur noch, wenn es ihnen gelingt, abseits der institutionellen Wege eine Beziehung zu ihren Schülern aufzubauen. Das ist ziemlich schwer und hängt von Privatinitiativen ab.“
Der Lehrer in dem Roman verhält sich streckenweise wie ein Privatdetektiv. Und dennoch ist „Das Mädchen und der Träumer“ kein Kriminalroman. Dafür spielen auch Träume eine viel zu große Rolle.
Maraini: „Ja, das Buch verläuft zweigleisig. Neben der Welt der Fakten liegt die Welt der Schatten. Träume, die einerseits auf Dinge aufmerksam machen, aber zugleich mysteriös bleiben. Orpheus steigt in die Welt der Schatten, um Eurydike zu suchen. Der Lehrer sucht in den Träumen seine verstorbene Tochter und findet statt dessen, so glaubt er jedenfalls, Spuren eines verschwunden Mädchens. Diese Reisen in seine Schattenwelt machen ihn jedenfalls sensibel für den Umgang mit anderen Kindern, mit seinen Schülern. Einerseits gibt es also diesen Kriminalfall, den Fakt des verschwundene Mädchens, anderseits spielen ganz andere Problematiken eine Rolle für den Protagonisten: die Vaterschaft, der Tod oder die Beziehung zu den Schülern. Dinge, die sich untereinander verknüpfen.“
Welche Rolle spielen Träume in Ihrem eigenen Leben?
Maraini: „Ich träume viel. Ich versuche auch, mich an sie zu erinnern, aber das gelingt nicht immer. Manchmal sagen mir Träume etwas, aber ihre Botschaft ist nie klar, die Sprache der Träume bleibt mysteriös. Freud und die Psychoanalytiker haben versucht, sie zu entschlüsseln, doch ist der Traum per se doppeldeutig. Man darf keine rationale Erklärung von Träumen suchen. Träume sind Zeichen, sie schlagen Alarm. Wie das Fieber. Das Fieber sagt auch nicht, welche Krankheit man hat, sondern dass etwas nicht stimmt mit dem Körper. Träume sagen etwas über den Zustand des Unterbewusstseins aus.“
Pasolini auf der Dachterrasse
Man konnte lesen, dass ein Traum mit Pasolini Sie besonders beeindruckt hat.
Maraini: „Der Traum war so klar, dass ich mich genau an ihn erinnere. Ich muss dazu erklären, dass ich früher in einem Ferienhaus Haus in Sabaudia mein Arbeitszimmer direkt unter dem von Pier Paolo hatte und immer seine Schritte über mir hörte. Viele Jahre nach seinem Tod hörte ich dann im Traum seine typischen Schritte über mir auf der Dachterrasse meiner Wohnung hier. Ich ging nach draußen und sah Pasolini. Der rief nach seinen Techniker, um erneut einen Film zu drehen. Die Techniker kamen, sagten ihm aber: »Du bist gestorben, du kannst nicht mehr arbeiten.« Er antwortete, er habe gerade zehn Jahre verloren und müsse jetzt unbedingt wieder drehen. Daraufhin forderten die Techniker mich auf: »Dacia, du musst Pier Paolo klar machen, dass er nicht mehr lebt.« Aber ich hatte nicht den Mut dazu. Ich spürte diese ungeheure Vitalität auch des toten Pasolini. An der Stelle bin ich aufgewacht. Und habe dem Traum gleich aufgeschrieben.“
In dem neuen Buch spielen nicht nur mysteriöse Träume eine Rolle. Es gibt auch eine wundervolle Figur, die außer dem Protagonisten niemand wahrnehmen kann. Ein Vogel, der auf seiner Schulter sitzt und mit ihm streitet.
Maraini: „Der Vogel spielt den Part eines zweiten Ichs. Anfangs vor allem als Gewissen. Dann wird er – wie in Pinocchio – der sprechenden Grille ähnlich. Im Buch ist viel Pinocchio enthalten. Der Wunsch nach Vaterschaft, wie der alte Geppetto, der sich einen Sohn schnitzt…“
… aber der Lehrer und der Vogel?
Maraini: „Also, der Lehrer fängt an, den Vogel zu hassen, beleidigt ihn, verjagt ihn. Er glaubt seine Ruhe zu haben, doch dann kommt der Vogel wieder. Der repräsentiert ein bisschen das Gewissen, ein bisschen den Gemeinsinn, und spielt auch eine Rolle, wie der Chor im griechischen Theater. Ich mag das griechische Theater, mit dem ich mich viel beschäftigt habe. Im griechischen Theater übernimmt der Chor die Rolle des gesunden Menschenverstandes. Das was die Leute auf der Straße sagen würden. Und manchmal, wenn der Held allzu große Ideen hat, stoßen er und der Chor zusammen. Wie der Lehrer und der Vogel.“
Zurück zu Pinocchio…
Maraini: „Der Wunsch nach Vaterschaft, der sich im Protagonisten manifestiert, wird meiner Meinung nach in der italienischen Gesellschaft noch immer unterdrückt. Die Frau darf sich ein Kind wünschen, der Mann spielt erst eine Rolle, wenn das Kind längst da ist und erwachsener wird. Kinderwunsch ist im traditionellen Teil der Gesellschaft noch immer Frauensache. Dabei ist das auch ein oft unausgesprochener Wunsch von Männern. Pinocchio ist ein präzises Beispiel. Geppetto ist alt, er ist arm, er ist hässlich, der kann kein Vater werden, weil sich keine Frau mit ihm vereinen würde. So konstruiert er sich eine Kinderfigur aus Holz. Und weil der Wunsch nach einem Sohn unglaublich groß ist, wird die Holzfigur lebendig. Das ist einen wunderschöne Metapher.“
Bunt wie ein Flickenteppich
In den Roman fließen Mythen und narrative Motive vor allem durch die Erzählungen des Lehrers ein, der damit seine Schüler fesseln kann. Aber es gibt auch ganz aktuelle Geschichten, die Sie abseits der Haupthandlung in Ihre Romanerzählung einbauen und diese bunt wie einen Flickenteppich werden lassen. Warum?
Maraini: „Ich habe drei Jahre an dem Buch gearbeitet und bin in der Zeit natürlich immer auch aktuellen Ereignissen begegnet. Wenn Themen, die mich betroffen machen, auftauchen, dann versuche ich, sie zu verarbeiten. Eines Morgens las ich von einem Mädchen, das seine Kleider mit Tritol vollgestopft und sich dann in die Luft gesprengt hat. Eine wahre Geschichte. Die hat mich so berührt, dass ich sie einbaut habe. Also während ich an einem Buch schreibe, fließen solche Geschichten immer ein. Ich arbeite nicht nach einem festen Plan, ich lasse mich von dem, was um mich herum passiert, beeinflussen. Das Mädchen, das in ein Bordell nach Asien gebracht und zur Prostitution gezwungen wird, ist eine andere wahre Geschichte, die ich aufgegriffen habe. Meine Geschichte ist zusammen gesetzt aus vielen Geschichten.
Gilt das auch für das Ambiente der Kleinstadt?
Maraini: Das ist ein kleinstädtisches Ambiente irgendwo in Norditalien. Es ist ein imaginärer Ort. Er ist angefüllt mit Klatsch. Jeder verdächtigt jeden. Sogar die Mutter des Mädchens wird beargwöhnt, ihrer Tochter Leid angetan zu haben. Ich habe versucht, dieses bedrückende Klima zu schildern, in dem eine Gemeinschaft besteht, die sich nach außen abschließt aber nach innen alle Verdächtigungen zulässt.
Die Hände schmutzig machen
Aktuellen Fragen gehen Sie auch in ihrer Kolumne im Corriere della Sera nach. Welche Rolle spielt die Zeitung für ihre Arbeit?
Maraini: „Die Arbeit für die Zeitung erlaubt mir, mich mit der Alltagsaktualität auseinander zu setzen. In meine narrativen Texte kann ja nur ganz wenig von ihr, das Besondere einfließen. Es gehört zu den absoluten Pflichten eines Schriftstellers, dass er eine Beziehung zu Fakten der „cronaca“, der Alltagsaktualität entwickelt. Einmal, um sie überhaupt zu kennen, und dann aus Verantwortung. Er soll darüber reden, seine Meinung sagen. Er kann nicht am Fenster bleiben, nur Betrachter bleiben, sondern muss sich in aller Öffentlichkeit die Hände auch mal schmutzig machen. Das gilt um so mehr, wenn seine Stimme bekannt ist und wahrgenommen wird. Ich kann das durch Beiträge in der Zeitung machen. Da ist es meine Aufgabe, Empörung über Ungerechtigkeiten, über Gewalt zu vermitteln und zu wecken. Über Dinge zu reden, über die man wenig oder gar nicht spricht.“
In diesen Wochen Monaten bewegen Themen wie der Rechtspopulismus die Öffentlichkeit. Ein Grund zur Sorge auch für Sie?
Maraini: „Ja, ich bin schrecklich besorgt. Wir nähern uns in der Gesellschaft reaktionären Formen. Es kommt zu Abschließungen, zu Ausgrenzungen. Es zeigen sich Formen eines Neorassismus. Die Leute haben Angst, aber Angst hat immer nur Unglück hervorgerufen. Und die Leute machen aus Angst etwas, was sie nicht tun sollten. Die Welt ist von der Globalisierung geprägt, sie ist voller Fehler und Widersprüche. Doch die Globalisierung ist nun mal eine Realität. Es hat keinen Sinn, die Augen zu schließen. Wer das tut, wird überwältigt werden. Wer als Antwort Mauern bauen will, nationalen Egoismus zeigt, wird überwältigt werden. Die einzige Möglichkeit, der Globalisierung entgegen zu treten, ist, sie zu steuern, sie zu kontrollieren, sich mit ihr auseinander zu setzen. Wenn man das nicht in ganz Europa mit Rationalität und Solidarität angeht dann liefert man sich nur dem nächsten angeblichen Starken, den Putins oder den Trumps aus. Also, ich bin sehr besorgt.
Das Gespräch wurde am 6. Februar 2017 geführt.
Dacia Maraini: Das Mädchen und der Träumer. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien/Bozen 2017. 319 Seiten, 22 Euro
Siehe auch auf Cluverius die Anmerkungen zum Roman („Spurlos verschwunden“)
Eine Rezension ist in der Süddeutschen Zeitung am 4. Juli 2017 erschienen