UNTERWEGS NACH MANCHESTER


Barmen, Bremen und Berlin – Lehrjahre des jungen Friedrich Engels auf dem Weg zu Karl Marx und dem „Bund der Gerechtigkeit“. Ein Gastbeitrag von Peter Kammerer

© Lonati/ "Engels-Gesichter"Zentralbibliothek Wuppertal

Friedrich Engels (1820-1895) – Zeichnung von Alessandro Lonati in der Ausstellung „EngelsGesichter“ in der Zentralbibliothek Wuppertal (bis 12.1.21)

Am 28. November 1820 wurde Friedrich Engels in Barmen geboren. Das Leben des jungen Engels bildet ein Muster, das sich anscheinend in jedem Jahrhundert wiederholt und immer wieder aktualisiert. Der Sohn einer wohlhabenden Familie widerspricht der vom Vater geplanten Bestimmung und wird zum Rebell. Mit Beben muss die Mutter in der Zeitung den Steckbrief lesen, mit dem er als Terrorist gesucht wird. Dieser geliebte Sohn verrät in ihren Augen Gott und den Glauben, in denen des Vaters Vernunft und soziale Ordnung. Selbst die Geschwister sind der Meinung, die hehren Ideale ihres ältesten Bruders führten ihn und die Gesellschaft nur ins Unglück. Er hört auf schlechte Freunde. „Ich wünschte, Du hättest den Marx nie gesehen“, schreibt Friedrichs Mutter Elise an ihren Sohn.

Und doch gibt es ein Happy End und Friedrichs Rebellion endet nicht wie bei Karl Moor oder Götz von Berlichingen mit dem Tod als Preis für den Traum von Freiheit, sondern: „Dann tafelten wir festlich und tranken Champagner und waren glücklich“. So beschreibt Eleonora Marx den Augenblick, in dem Friedrich Engels mit 49 Jahren als erfolgreicher Geschäftsmann die Firma, also die väterliche Welt, endgültig verlässt, um sich von nun an ausschließlich seinem eigentlichen Lebensziel zu widmen: der Befreiung des Proletariats. Das klingt verdächtig nach Kitsch und dementiert das übliche Klagelied über die deutschen Zustände und das Schicksal derer, die gegen sie rebellieren.

Auch die Biografen haben Mühe

Auch die Biografen haben Mühe, diese Geschichte ohne Vorurteile zu verstehen. Etwas reißerisch verspricht Tristram Hunt in der lesenswertesten der derzeit kursierenden Biografien nicht nur einen Engels als „Erfinder des Marxismus“, sondern auch als Meister eines Doppellebens zwischen revolutionärer Arbeit und „kostspieligen Frauen“, Fuchsjagden und Börsengeschäften. Nüchtern betrachtet müsste man den „Erfinder“ streichen und den Realismus bewundern, mit dem Engels seinen Lebensumständen Rechnung getragen hat, ohne je das große Ziel, den Umsturz aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, aus den Augen zu verlieren. Eine einzigartige Figur unter den vielen, heillos zerklüfteten deutschen Charakteren.

Vom ersten großen Konflikt mit dem Vater wissen wir recht wenig. Im Jahre 1837 trägt sich Friedrich Engels Senior mit großen Plänen. Er gründet eine Fabrik in Barmen und beteiligt sich an einer Spinnerei in Manchester. Sein siebzehnjähriger Sohn Friedrich, dem seine Lehrer „religiösen Sinn, Reinheit des Gemütes, gefällige Sitte und andere ansprechende Eigenschaften“ bescheinigen, soll möglichst rasch in die neue Firma eintreten, also das Gymnasium vorzeitig verlassen.

Der Sprung von der Schulbank

Der Sprung von der Schulbank in einer deutschen Provinz in das Zentrum der industriellen Revolution muss den jungen Friedrich trotz der Trauer über den abgebrochenen Bildungsweg auch begeistert haben. Am 1. August 1838 nimmt er als designierter Juniorchef zusammen mit dem Vater an der Unterzeichnung des Gründungsvertrags der Firma „Ermen & Engels“ in Manchester teil. Schon die Reise war ein Erlebnis: Mit dem Schiff auf dem Rhein bis Rotterdam, mit dem Raddampfer nach London, eine Fahrt auf der vor kurzem eröffneten, ersten regulären Eisenbahnstrecke der Welt von Manchester nach Liverpool. Er schreibt seiner Mutter: „Ich bin in eine ganz neue Welt versetzt“. Das alte Deutschland der Kleinstaaten und tausend Privilegien, der politischen Ohnmacht und Willkür liegt hinter ihm.

Auf der Rückfahrt liefert ihn sein Vater in Bremen zu einer kaufmännischen Lehre in der Firma des Konsuls Heinrich Leopold (Leinen, Kaffee, Zigarren) ab. Friedrich übersteht diese zweieinhalb Jahre nur, weil er literarisch zu publizieren beginnt. Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald, um nicht mit der Familie in „höllische Schwulitäten“ zu kommen. Im Briefwechsel mit seinen alten Freunden, die später Theologen werden, setzt er sich mit der Religion auseinander und entdeckt Hegel. Er ist tief beeindruckt, „als sich zum ersten Mal die Gottesidee des letzten Philosophen vor mir auftat, dieser riesenhafteste Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts“. Hegels Geschichtsphilosophie „ist mir ohnehin wie aus der Seele geschrieben“. Und wenig später: „Die ungeheuren Gedanken packen mich auf eine furchtbare Weise“.

Nach Ablauf der Lehrzeit

Nach Ablauf der Lehrzeit trickst er den Vater aus und verschafft sich eine wertvolle Atempause, indem er sich Ende September 1841 freiwillig zu einer einjährigen Militärzeit in Berlin meldet. Dagegen kann der Vater nichts einwenden und Friedrich kann die Universität besuchen und Freundschaft mit den linken Junghegelianern schließen. Er stürzt sich sofort in die Diskussion um Schellings Antrittsvorlesung, wird nach Veröffentlichung seiner polemischen Broschüre von Ruge, dem bedeutenden Herausgeber oppositioneller Zeitschriften mit Herr Dr. angeredet und antwortet: „Doktor bin ich übrigens nicht und kann es nie werden, ich bin nur Kaufmann und königlich preußischer Artillerist“.

Schon in Bremen fragt Engels nach einer Literatur, die der Gegenwart Rechnung trägt, ihrem „Ringen nach Freiheit, das alle ihre Erscheinungen hervorruft, den sich entwickelnden Konstitutionalismus, das Sträuben gegen den Druck der Aristokratie, den Kampf des Gedankens mit dem Pietismus, der Heiterkeit mit den Resten düsterer Askese“. Er rezensiert die „Deutschen Volksbücher“ und untersucht ihren „volkstümlichen Wert“, einen Begriff, den Brecht hundert Jahre später trotz aller Tümeleien als unverzichtbar bezeichnen wird.

Wenn er nur wenige Jahre später im Northern Star den englischen Arbeitern die deutschen Zustände erklärt, erinnert er an das vom Bürgertum im Stich gelassene Volk und an die Literatur als „einzige Hoffnung auf Besserung“. Denn der Drang und der Sturm „der um 1750 Geborenen, der Dichter Goethe und Schiller, der Philosophen Kant und Fichte“, weckten inmitten der deutschen Misere „einen Geist des Trotzes und der Rebellion“ bis die Deutschen, am Ende des Jahrhunderts, entsetzt vor den Konsequenzen der französischen Revolution, resignierten und „ihrem alten ruhigen heiligen römischen Dunghaufen den Vorzug vor der gewaltigen Aktivität eines Volkes“ gaben.

In den Jahren vor dem deutschen Frühling

In den Jahren vor dem deutschen Frühling von 1848 entspinnt sich unter den demokratisch orientierten jungen Intellektuellen eine interessante Diskussion über Goethe, in die sich auch Engels polemisch einmischt. Es geht, wie Ferdinand Gregorovius 1849 zusammenfasst, um den „Begriff des Menschen, welcher gefunden werden soll“ im „Versöhnungsfest“, das einen „Götz, Werther, Tasso, den Prometheus-Faust, Eduard und Ottilie, und nicht minder auch ihre Stammverwandten vom Carl Moor, bis zu Tiecks William Lovell und selbst den Hyperion Hölderlin“ versammelt.

Gregorovius, ein Jahr jünger als Engels und wie dieser Autodidakt, versucht „die sozialistischen Elemente in Goethes Wilhelm Meister“ fruchtbar zu machen. Dabei stützt er sich auf eine Schrift von Karl Grün, die Engels schonungslos zerpflückt. „Über alle Sachen, in denen Goethe wirklich groß und genial war, … gießt (Grün) einen breiten Strom von Trivialitäten“ aus. Da wo Goethe hingegen philisterhaft in seiner Zeit steckt, entdeckt er die „Menschlichkeit“ Goethes ohne Kritik ihrer verbleichenden feudalen oder frisch sich abzeichnenden bürgerlichen Gestalt. Denn das große Dilemma Goethes sieht Engels darin, „in einer Lebenssphäre zu existieren, die er verachten musste, und doch an diese Sphäre als die einzige, in welcher er sich betätigen konnte, gefesselt zu sein“.

Goethe hat seinen Wilhelm Meister

Goethe hat seinen Wilhelm Meister bis an die Schwelle einer neuen Welt geführt und mit ihm einen Blick geworfen auf die Krise der Heimindustrie, das neue Maschinenwesen, die utilitaristische Gedankenwelt, die das Tun der Menschen ergreift und die Schönheit bedrängt, die sich abzeichnenden Veränderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern, auf geheime Gesellschaften und soziale Utopien mit zum Teil zweifelhaften Methoden der Lebensführung. Der Roman, dessen letzte Fassung 1829 erscheint, ist nicht nur formal, sondern auch durch die Einnahme verschiedener Standpunkte eine nicht nur für die Zeitgenossen schwer zu durchschauende Wirrnis.

Ein möglicher Schlüssel zu deren Verständnis liegt in Manchester. Und hier, in der ersten Hochburg der industriellen Revolution, beginnen im November 1842 die Wanderjahre des Friedrich Engels, auf denen er Mary Burns, Karl Marx und dem „Bund der Gerechtigkeit“ begegnet und die ihn nach Brüssel, Paris, Köln und in die Revolution von 1848/1849 führen.

Gekürzter Beitrag von Peter Kammerer, der unter dem Titel „Friedrich Engels – die Wanderjahre“, in der deutschen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ (November 2020) erschienen ist.

Peter Kammerer (geboren 1938 in Offenburg), emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino. Übersetzt u.a. Pasolini, Gramsci und (zusammen mit Graziella Galvani) Heiner Müller ins Deutsche. Zusammen mit Enrico Donaggio (Universität Turin) bereitet er für den Feltrinelli Verlag (Mailand) die Neuausgabe der italienischen Fassung von Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (La situazione della classe operaia in Inghilterra) vor, die Anfang März erscheinen soll.

Zuletzt hat er mit Enrico Donaggio das Kommunistische Manifest für Feltrinelli neu übersetzt und herausgegeben: Karl Marx/Friedrich Engels: Manifesto del partito comunista. 112 pagg., 6,50 Euro. Milano 2017