VOM ORCHESTER IN AUSCHWITZ BIS ZUM RAP


Erinnerung an Esther Béjarano, die im Juli 2021 in Hamburg im Alter 96 Jahren gestorben ist. Die jüdische Musikerin hatte 2013 in Turin ihre (nur auf Italienisch herausgegeben) Erinnerungen vorgestellt. Ein Beitrag in der Südddeutschen Zeitung vom 26. Januar 2013 

Esther Béjarano (Saarlouis 1924 – Hamburg 2021)

Mailand/ Turin (2013) Die Vorstellung im Auditorium des Turiner Polytechnikums war längst zu Ende, da holte Gianni Coscia im Foyer für einen Fotografen noch einmal sein Akkordeon aus dem Koffer. Der 82jährige Jurist und Jazzmusiker improvisierte ein paar Takte und als Esther Béjarano hinzutrat, begann er das Lied „Bel Ami“ aus dem Willi-Forst-Film von 1939 zu spielen. Die 88jährige Sängerin nahm sogleich die Melodie auf: „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami…“ Und denen, die dabei standen, lief ein Schauer über den Rücken. Denn „Bel Ami“ war ihre Prüfungsaufgabe für die Aufnahme in das Frauenorchester von Auschwitz gewesen.

Die damals neunzehnjährige Esther Loewy stammte aus einer musikbesessenen Familie. Ihr Vater hatte als Kantor verschiedener jüdischer Gemeinden unter anderem in Saarbrücken und Ulm gearbeitet, wo Esther das Klavierspielen lernte. Als die Rassenverfolgungen begannen, konnten sich zwei ältere Geschwister gerade noch rechtzeitig ins Ausland absetzen. Die Familie wurde auseinander gerissen, die Eltern nach Litauen verschleppt und dort bereits 1941 von den Nazis ermordet, was Esther aber erst nach Kriegsende erfuhr. Ihre Schwester Ruth kam mit ihrem Mann auf der Flucht kurz vor der Schweizer Grenze ums Leben. Esther, die jüngste der Familie, wurde 1941 in ein Zwangsarbeitslager bei Fürstenwalde eingeliefert. Im Frühjahr 1943 wurde sie dann nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Als Mitglieder für ein Frauenorchester gesucht wurden, drückte man ihr ein Akkordeon in die Hand – ein Instrument, das sie nie zuvor gespielt hatte. Sie fand trotzdem die richtigen Akkorde für das von ihr geforderte Stück „Bel Ami“. Durch die Aufnahme in das Orchester war die schmächtige, gerade mal 1,50 Meter große Frau erst einmal von schwerster körperlicher Arbeit befreit. Dennoch hatte sie den Tod vor Augen. Ihren eigenen durch häufige Krankheiten oder durch die Gaskammer, die hier allen drohte, als erstes den Schwachen und Kranken. Und den Tod ihrer Leidensgenossinnen, die bei der Arbeit zusammenbrachen, ermordet wurden und deren Leichen ins Lager gebracht wurden, während das Orchester am Tor spielen musste.

Durch eine Kette wunderbarer Umstände überlebte die junge Frau. Von dieser Zeit, von ihrem ganzen Leben erzählt sie in einem Buch, das jetzt unter Mitarbeit von Antonella Romeo auf Italienisch unter dem Titel „La ragazza con la fisarmonica“ (Das Mädchen mit dem Akkordeon) in dem kleinen Turiner Verlag Edizioni Seb 27 erschienen ist. Gerade hat der Verlag es auf Veranstaltungen mit der Autorin in Alessandria, Cuneo und Turin vorgestellt. Über eine deutsche Ausgabe gibt es Verhandlungen mit dem Hamburger Laika Verlag.

Der Text, dessen erste Fassung auf die siebziger Jahre zurück geht, ist auch deshalb interessant, weil er noch vor der grundlegenden Untersuchung von Gabriele Knapp („Das Frauenorchester von Auschwitz“,1996) umstrittene Schilderungen wie in Fania Fénelons Tatsachenroman „Das Mädchenorchester von Auschwitz“ (Paris 1975, München 1981) zurecht rückt. Wobei er vor allem die Solidarität in der Gruppe der Musikerinnen unterstreicht. Und wenn Esther Béjarano im Gespräch von dieser Zeit erzählt, dann sieht mit der kleinen Frau mit den leuchtend dunkelbrauen Augen in einem von Falten zerknitterten Gesicht an, „dass das heute noch weh tut“ und die Erlebnisse immer wieder in Träumen erscheinen.

Esther Loewy wanderte nach dem Krieg nach Palästina aus, wo sie als Musikerin in der paramilitärischen Gruppe Haganah („Die Verteidigung“), die später in der israelischen Armee aufging, die Gründung und die Widersprüche des Staates Israel erlebt. In einem Chor der Arbeiterbewegung lernte sie Nissim Béjarano kennen, den sie bald darauf heiratete. In Israel ließ sie sich dann zur Koloratursopranistin ausbilden. 1961 kehrte sie zusammen mit ihrem Mann nach Deutschland zurück, weil er als Soldat die „Angriffskrise Israels“, wie sie im Buch schreibt, nicht mehr mitmachen wollte. Aus Entsetzen über NPD-Aktivitäten gründete sie zusammen mit anderen das deutsche Auschwitzkomitee und machte mit der eigenen Gruppe Coincidence Musik gegen rechts. Vor zwei Jahren trat sie bereits mit einem vom Goethe-Institut organisierten Konzert in Turin auf. Dabei lernten sich Esther Béjarano und die italienische Journalistin und Autorin Antonella Romeo (von ihr ist unter anderem bei Hoffmann&Campe das Buch „La deutsche Vita“ erschienen) kennen. Bei Besuchen in Hamburg stieß die Journalistin dann auf das Manuskript, das die Grundlage für die aktuelle Veröffentlichung in den Edizioni Seb 27 bildet. Es hatte bereits 2004 im Pahl-Rugenstein Verlag (Bonn) den Titel „Wir leben trotzdem“ gegeben, der in Zusammenarbeit mit der deutschen Journalistin Birgit Gärtner vom Leben der Esther Béjarano erzählt. Doch hat sich die Musikerin bald davon distanziert.

Jetzt präsentierte sie also ihr eigenes Buch (angereichert mit Erläuterungen und einem langen Interview durch Antonella Romeo) in Italien. Bei den Auftritten diese Woche sang sie mit immer noch klarer Stimme Lieder in Yiddish wie in Romanes, der Sprache der Sinti und Roma. Ihr zur Seite nahm sich der nicht nur in italienischen Jazzkreisen bekannte Gianni Coscia als Begleitung am Akkordeon ganz bescheiden zurück. Nur in einer Pause, in der Esther Béjarano in einem roten Sessel Luft schnappen konnte, interpretierte er wundervoll einen melancholischen Walzer, den sein Vater zu Hause in Alessandria oft während schlafloser Kriegsnächte im Zweiten Weltkrieg gespielt hatte. Dann sprang die ganz in schwarz gekleidete weißhaarige Frau wieder auf und brachte mit dem jüdischen Widerstandslied „Mir leben ejbig“, das im Ghetto von Wilna entstanden war, den voll besetzten Saal zum rhythmischen Klatschen.

Zum Buch gehört eine DVD mit einem zugleich einfühlenden wie informativ-sachlicher Dokumentarfilm (43 Minuten), den die junge italienische Regisseurin Elena Valsania aus Cuneo gerade hergestellt hat. Darin sieht man auch Livemitschnitte von Konzerten Esther Béjaranos zusammen mit ihrem Sohn Joram, ihrer Tochter Edna und der Kölner Hip-Hop-Band „Microphone Mafia“, zu der türkische wie italienische Mitglieder gehören. Da finden drei Generationen und drei Religionen (Judentum, Islam, Christentum) zu einem friedlichen Miteinander. Mit dieser Gruppe hatte Esther bereits im vergangenen Jahr ein CD unter dem Titel „Per la Vita“ bei dem Label Al Dente Recordz mit jüdischen Songs wie mit Rap-Titeln herausgebracht. Kommende Woche erscheint das Nachfolge-Album „La Vita continua“.

„Vom Orchester in Auschwitz bis zum Rap“ lautet deshalb auch der Untertitel ihres italienischen Buches. Dabei hat die temperamentvolle 88jährige Sängerin mit Rap eigentlich nicht viel am Hut. Das sei nicht ihr Stil, sagt sie, aber es gehe ihr um die Botschaft, die sie so auch jungen Leuten neben ihren Konferenzen oder bei Besuchen von Schulen vermitteln könne. Wir notwendig das ist, zeigen nicht nur die zunehmenden Auftritte von Neonazis in Deutschland. Die italienischen Zeitungen berichteten gestern am Freitag von Mitgliedern der rechtsradikalen „Kultur“-Vereinigung CasaPound in Neapel, die eine jüdische Universitätsstudentin vergewaltigen und ein Uhrengeschäft eines Mitglieds der jüdischen Gemeinschaft der Stadt anzünden wollten. Die Aktionen konnten in letzter Minute verhindert werden, nachdem die Polizei über Telefonüberwachung die Verabredungen aufgedeckt hatte.