VOM STEINCHEN BIS ZUR SCHNECKE


Das Mosaik in Kunst und Design der Gegenwart. Ein Gespräch mit Maurizio Tarantino, dem Leiter des Museo d’Arte von Ravenna, über eine Ausstellung mit Mosaik-Skulpturen und die 5. Biennale „Ravenna Mosaico“

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Mit Mosaik eine Skulptur bilden – Athos Onga, „Dama“ (1988)

Ravenna – Die frühere Kaiserstadt Ravenna an der Adria ist berühmt für baulichen Zeugnisse aus der Spätantike und dem Frühchristentum mit ihren prächtigen Mosaikwerken. Bis heute hat sich die alte Kulturtechnik im lokalen Kunsthandwerk erhalten. Seit einigen Jahren findet mit „Ravenna Mosaico“ in der Stadt eine Biennale zum Mosaik der Gegenwart statt (in diesem Jahr bis zum 26. November). Diesmal geht der Blick auch über das Handwerk hinaus in die bildende Kunst, die von den 1930er Jahren an die Mosaiktechnik wieder entdeckte. Im Museo d’Arte (MAR) von Ravenna ist noch bis zum 7.Januar unter dem Titel „Montezuma, Fontana, Mirko“ eine Ausstellung über das Mosaik in der Skulptur der Gegenwart zu sehen. Dazu im Gespräch Maurizio Tarantino (*), der seit kurzem das MAR leitet.

Ravenna fasziniert mit seinen alten Mosaiken. Faszinierend ist aber auch die Tradition, die sich hier mit Dutzenden von Werkstätten erhalten hat. Doch gilt diese Technik heute vor allem als ein Handwerk, weniger als Ausdruck der Kunst der Moderne und der Gegenwart. Das möchte man jetzt ändern?

Maurizio Tarantino: „Seit Jahren gibt es in Ravenna eine Vereinigung von Mosaikhandwerkern, die in Kontakt zur Gegenwartskunst steht. Unser Museum hat eine breite Sammlung von Mosaikarbeiten, die nach Vorlage von Künstlern wie Capogrossi, Chagall oder Guttuso in lokalen Werkstätten hergestellt wurden. Was fehlte, war ein Ausstellung, die über Ravenna hinaus dokumentierte, wie das Mosaik in die Kunst der Moderne und der Gegenwart zurückgekehrt ist. Die auch definierte, wo die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk laufen. Obwohl das natürlich sehr schwierig ist, denn diese Grenzen sind fließend.“

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Skulptur der Azteken (vor 1521)

Die Ausstellung „Montezuma, Fontana, Mirko“ im Museo d’Arte beginnt mit Arbeiten aus den 1930er Jahren. Warum diese Zäsur?

„Die Ausstellung, die Alfonso Panzetta und Daniele Torcellini eingerichtet haben, widmet sich der Skulptur, der dreidimensionalen Arbeit mit Mosaik. Und das ist eine relativ junge Kunst, die in den 1930er Jahren mit Lucio Fontana und Mirko Basaldella beginnt. Vorausgegangen waren in Italien Arbeiten etwa von Gino Severini oder Adolfo Wildt, die die Mosaiktechnik aufgriffen hatten, aber im Zweidimensionalen verhaftet blieben. Severini nutzte Mosaiken zum Beispiel als Stilmittel für Wandschmuck in der Architektur. In Südamerika entdeckte dann ein Lucio Fontana die Mosaik-Skulpturen der Azteken. Etwa gleichzeitig stieß Mirko Basaldella im römischen Pigorini-Museum für Frühgeschichte auf solche Arbeiten. Das war für beide, wenn auch ganz entfernt arbeitende Künstler, eine Art Erleuchtung. In einer Zeit, in der die Entdeckung der sogenannte primitive Kunst die unterschiedlichsten Kunstströmungen beeinflusste. Und mit den ersten Arbeiten von Fontana und Basaldella, das ist jedenfalls die These der Ausstellung, beginnt der Gebrauch des Mosaiks in der Gegenwart nicht nur als Bedeckung oder der Ummantelung von Arbeiten, sondern als eigenständiges Element der Kunst.“

Eine Venus aus Nailsticker

Fontana und Mirko als Vorläufer. Wie entwickelt sich dann diese Technik?

„Die Technik taucht bis heute in unterschiedlichen, ganz überraschenden Richtungen auf. Wichtig bleibt die Grundstruktur des musiven Arbeitens: der Gebrauch einer „tessera“, eines Grundelements, das in Reihung und Wiederholung eine Form, ein Muster, einen Körper prägt. Das kann das klassische Steinchen sein, das Glasplättchen, aber auch eine Büroklammer, eine Reißzwecke oder sogar ein Kleinschnecke in ihrem Haus wie etwa bei einer im wahrsten Sinne des Wortes lebendigen Arbeit von Massimo Ruiu aus Bari, die wir in der Ausstellung zeigen.“

Lebendig: "Corona" von Massimo Ruiu (2017)

Lebendig: „Corona“ von Massimo Ruiu (2017)

Skulpturen werden gezeigt, die im Figurativen bleiben, etwa von Enrica Borghi, die eine Venus aus Nailsticker kreiert hat. Konzeptionell geht dagegen ein Paolo Racagni vor. Abstrakt arbeitet die Gruppe CaCO3 . Sandro Chia nutzt die Technik zur Unterstreichung von einzelnen Elementen seiner Skulpturen.  Auf der anderen Seite sind verspielte Designer wie Yukiko Nagai oder Ettore Sottsass vertreten. Dem Mosaik scheinen heute keine Grenzen mehr gesetzt?

„Das Prinzip der Wiederholung zeigt sich auch in der Kunst der Akkumulation. Hier öffnet sich ein Grenzbereich, der die Möglichkeiten vor Augen führt, wenn man die Mosaiktechnik extensiv interpretiert.“

Designbahnhöfe in Chicago oder Neapel

Die Ausstellung im MAR ist Teil der „Biennale del Mosaico Contemporaneo“, auch wenn sie länger (bis Januar) zu sehen bleibt. Die Biennale, die zum fünften Mal veranstaltet wird, geht Ende November zu Ende. Was zeichnet sie aus?

„Die ersten vier Veranstaltungsreihen waren ganz auf die lokalen Werkstätten und ihre Beiträge zum Mosaik der Gegenwart fokussiert. Junge Künstler unter ihnen waren auch vertreten, doch blieb ihre Sichtbarkeit begrenzt. Bei der 5. Biennale haben wir in diesem Jahr nicht nur wie besprochen die Gegenwartskunst mit einbezogen, sondern auch auf das Mosaik in Industrie und Design geblickt. Eine der größten Industriebetriebe des Luxus-Sektors, das Unternehmen Sicis aus Ravenna, produziert kostbare Mosaike unter anderem für Hotels in der ganzen Welt, von Hollywood bis Dubai. Bahnhöfe der Untergrundbahnen von Chicago oder Neapel wurden von ihr gestaltet. Sie stellt Arbeiten auch im Schmuckbereich jetzt in einer großen Ausstellung mit digitalen Rauminstallationen aus.“

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Digitale Show für Industriedesign – Treppenhaus der Sicis-Ausstellung

Kann man also von einer Kunst- und Design-Biennale sprechen?

„Ja, aber das Handwerk bleibt natürlich als Grundlage präsent. Über 60 Werkstätten sind beteiligt. Es gibt insgesamt 40 Ausstellungen zum Thema. Die finden auch an historischen Plätzen von Ravenna statt. Etwa in der Biblioteca Classense, die im 17. Jahrhundert gegründet wurde, oder in den Kreuzgängen der Franziskaner. Das sind auch Orte, die an die Präsenz von Dante erinnern, der ja während seines Exils in der Stadt den größten Teil seiner ‚Göttlichen Komödie’ geschrieben hatte, der hier 1321 starb und hier begraben liegt.“

 

 

Ravenna Mosaico, 5. Rassegna Biennale di Mosaico Contemporaneo. Ravenna bis 26.11. Info: www.ravennamosaico.it

Montezuma, Fontana, Mirko – La scultura in mosaico dalle origini a oggi. Museo d’Arte, Ravenna bis 7.1.2018. Di – So 9 – 18 Uhr, Eintritt 6 Euro. Katalog (zweisprachig italienisch und englisch) Silvana Editoriale (Mailand) 34 Euro.Silvana Editoriale

Sicis – Destinazione Micromosaico. Palazzo Rasponi dalle Teste, Ravenna bis 7.1.2018. Di – So 11 – 18 Uhr, Eintritt frei

(*) Maurizio Tarantino (Rom 1960) war viele Jahre lang in Neapel Direktor der Bibliothek des Istituto per gli Studi Storici, das Benedetto Croce gegründet hatte, und leitete anschließend die Biblioteca Augusta in Perugia. In Ravenna ist er seit dem Frühjahr 2017 neben dem MAR für die Biblioteca Classense verantwortlich und koordiniert zudem die kulturpolitischen Aktivitäten der Stadt.

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Maurizio Tarantino, Direktor des Museo d’Arte