WIE ERINNERN?


Deutsche und italienischen Historiker arbeiten die Jahre zwischen 1943 und 1945 auf

Befreiung Mailands am 25. April 1945

Befreiung Mailands am 25. April 1945

Mailand (18.4. 2011) – Am kommenden Ostermontag feiert Italien wie jeden 25. April den „Tag der Befreiung“. Am 25. April 1945 zogen italienische Widerstandskämpfer in Mailand und Turin ein. Das Datum markiert das Ende der deutschen Besatzung und der faschistischen Gewaltherrschaft in Mussolinis Rumpfstaat (Repubblica Sociale Italiana) im Norden des Landes. Zwei Tage später wurde der Duce beim Versuch, in die Schweiz zu flüchten, in Dongo am Comer See festgenommen und auf Befehl des Nationalkomitees der Resistenza (CLNAI) erschossen. Italien war wieder frei. So bildet der 25. April ein Scharnier zwischen Widerstand und Aufbau der Demokratie. Er ist Ende und Anfang zugleich.

In den vergangenen zwanzig Jahren ist der 25. April jedoch als nationaler Festtag im Rahmen einer Geschichtspolitik verblasst, die die Ideale des antifaschistischen Widerstand abgewertet und die angeblich patriotischen Ideen der Sozialbewegung Mussolinis der Jahre 43-45 aufgewertet hat. Und während die letzten Veteranen der Resistenza trotzig aufmarschieren, möchte die Berlusconi-Regierung zumindest den Geist der Verfassung ändern, die 1947 aus den Wertvorstellungen des Widerstands heraus entstanden ist. Historische Analyse und politische Absicht durchmischen sich. Verwirrung macht sich breit.

Erinnern wird von Vergessen verdrängt

Zu den laufenden Angriffen auf die Resistenza als Gründungsmythos der Republik gehört auch ein Gesetzentwurf, der gerade im römischen Senat eingebracht wurde. Mit ihm soll das 1952 erlassene Verbot, faschistisches Gedankengut zu verbreiten und den Partito Nazionale Fascista neu zu gründen, aufgehoben werden. Die Befürworter, Senatoren der Regierungspartei PDL, begründen ihren Vorstoß unter anderem damit, dass ja im Nachkriegsitalien eine kommunistische Partei politisch tätig und einflussreich sein konnte. Wenn man mit solcher Argumentation die Partei des Diktators auf eine Ebene mit der stellt, die dazu beigetragen hat, dass Italien vom Diktator befreit werden konnte, fördert man ein Geschichtsverständnis, in dem Erinnern von Vergessen verdrängt wird. Dass Sieger und Verlierer im historischen Prozess notwendig eine unterschiedliche Erinnerungskultur haben, geht so in Beliebigkeit unter. Und der 25. April mutiert zum unpolitischen Frühlingsfest.

Im Keller versteckt

Wie Erinnern? Das Problem stellt sich auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Italien. Denn der 25. April 1945 bedeutet das Ende eines deutsch-italienischen Krieges, der am 8. September 1943 mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Italien begonnen hatte, nachdem die Badoglio-Regierung mit den Alliierten einen separaten Waffenstillstand ausgehandelt hatte. Mehr als 600.000 Soldaten der italienischen königlichen Armee wurden entwaffnet und nach Deutschland verschleppt, wo sie unter zum Teil menschenunwürdigen Umständen in Gefangenenlager untergebracht wurden und Zwangsarbeit verrichten mussten. In Italien selbst kam es zu mörderischen Übergriffen von Wehrmacht und SS-Einheiten gegenüber der Zivilbevölkerung. Viele Vorgänge sind erst Jahrzehnte nach Kriegsende ans Licht gekommen. Dokumente über Massaker wurden teilweise aus Rücksicht etwa auf die Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO der Öffentlichkeit vorenthalten. Etwa die Unterlagen über den Massenmord von Einwohnern des toskanischen Dorfes Sant’Anna di Stazzema im Sommer 1944, die versteckt im Keller der Staatsanwaltschaft des römischen Militärgerichts lagerten . Die jeweilige nationale Historienwissenschaft hat sich dementsprechend schwer mit der Aufarbeitung der Geschichte der Jahre 43-45 gemacht.

Zudem überlagern sich Geschichte und Gegenwart. Spät erst begannen sich Betroffene und ihre Angehörigen mit Forderungen nach Wiedergutmachung direkt an die Bundesrepublik zu wenden. Die hatte aber bereits in den sechziger Jahren etwa mit Italien eine Vereinbarung über eine pauschale Abgeltung (40 Millionen DM) der Wiedergutmachung getroffen. Verschiedene italienische Gerichte haben dagegen individuellen Forderungsklagen Recht gegeben und zur Durchsetzung der Ansprüche die Beschlagnahme von deutschem Besitz (zum Beispiel die Liegenschaft des deutsch-italienischen Wissenschaftszentrums Villa Vigoni am Comer See) angeordnet. Daraufhin hat Deutschland beim internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage eingereicht. Um massenhafte Forderung nach Entschädigungen in Millionenhöhe vorzubeugen, soll der Gerichtshof die Immunität des deutschen Staates vor italienischen und anderen ausländischen Gerichten bestätigen.

Eine gemeinsame Erinnerungskultur?

Zugleich beschlossen aber die Regierungen von Berlin und Rom bei einem Gipfeltreffen in Triest im November 2008 die Einsetzung einer bilateralen Historikerkommission unter dem Dach der jeweiligen Außenministerien. Der Kommission, die im März 2009 bei einer Veranstaltung der Villa Vigoni ihre Arbeit aufgenommen hat, wurde das Mandat übertragen, „die gemeinsame Forschung zur deutsch-italienischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu vertiefen“, um unter besonderer Berücksichtigung der Schicksale der in Deutschland internierten italienischen Soldaten zur Schaffung einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“ beizutragen.

Unter der Leitung von Wolfgang Schieder (Universität Köln) und Mariano Gabriele (Universität La Sapienza Rom) sollen die insgesamt zehn Mitglieder der Kommission bis zum kommenden Jahr einen Bericht vorlegen. Gerade kam man in der Villa Vigoni wieder zu einem Arbeitstreffen zusammen, bei dem man eine Art Zwischenbilanz zog und Bausteine zum Abschlussberichts formulierte . Die Wissenschaftler, die den Ansatz der Erfahrungsgeschichte gewählt haben, sind durch teilweise überraschende Archivfunde (unter anderem auch im Vatikan) reichlich belohnt worden. Beim italienischen Wirtschaftsministerium lagern zum Beispiel rund 200.000 bislang nicht ausgewertete Berichte von früheren Militärinternierten, die in den sechziger Jahren Anträgen zur Wiedergutmachung beigelegt worden waren. Daraus soll unter Federführung der Dachauer Historikerin Gabriele Hammermann eine Anthologie der Leidensberichte auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht werden. Unterlagen aus den Archiven der Carabinieri und des Oberkommandos des Heeres werden herangezogen, um einen möglichst vollständigen Atlas deutscher Verbrechen von Gewaltakten gegenüber der Zivilbevölkerung zu erstellen. Zugleich hat man begonnen, den bislang kaum beachteten Anteil italienischer Stellen und Personen an diesen Gewaltverbrechen aufzudecken.

Liebe in Zeiten des Krieges

Junge Wissenschaftler, die der Kommission zuarbeiten, sind wie die Römerin Michela Ponzani dabei, die freundschaftlichen, manchmal sogar Liebesbeziehungen, die zwischen Militärinternierten und der deutschen Zivilbevölkerung entstanden sind und teilweise den Krieg überdauert haben, herauszuarbeiten. Auf deutscher Seite sind durch Auswertung von Stadtarchiven und Privatsammlungen neue Quellen (Briefe, Tagebücher, etc.) gefunden wurden, aus denen man einen differenzierten Überblick über den mentalen Zustand der in Italien eingesetzten deutschen Soldaten gewinnen kann. Das reicht von der Verrohung durch den Kriegseinsatz (wie sie auch Sönke Neitzel und Harald Welzer in ihrem Buch „Soldaten“ geschildert haben) bis hin zu spontanen soldarischen Aktionen zugunsten der Zivilbevölkerung.

Dass Wissenschaft Geld kostet und sich nicht in gelehrten Professorentreffen erschöpft, hat in den jeweiligen Regierungskreisen für Überraschung gesorgt. So ist trotz aller guten Absichten der Politik, im Kommissionsalltag für kleine und größere Hindernisse gesorgt. In der Kommission diskutiert man zudem über den Plan, eine große Ausstellung zu organisieren, in der die Forschungsarbeit für eine breitere Öffentlichkeit aufgearbeitet werden kann. Auch die wird man nicht zum Nulltarif bekommen. Das Material, das in den vergangenen zwei Jahren zum Vorschein gekommen ist, ist auf jeden Fall so umfangreich, dass, so Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut in Rom, ein Forschungsbedarf bestehe, der weit über den Abschlussbericht im kommenden Jahr hinaus gehen wird.

Unbehagen am Regierungsauftrag

Bei einer Diskussionsveranstaltung in Mailand, die der Arbeitssitzung in der Villa Vigoni vorgeschaltet war, äußerten mehre Mitglieder der Kommission Unbehagen am Regierungsauftrag zur Schaffung einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“. Erinnerung, so die durchgehende Meinung, sei notwendig getrennt. Man könne dagegen, wie es etwa Paolo Pezzino (Universität Pisa) formulierte, die Erinnerung historisch so präsentieren, dass die jeweils anderen Erfahrungen deutlich blieben. Solange die Gegensätzlichkeit der Erinnerung erkennbar sei, bleibe Geschichte lebendig und droht nicht im Vergessen unterzugehen. Pezzino klagte in diesem Zusammenhang eine „Ethik der Erinnerung“ und die „staatsbürgerliche Verantwortung“ von Historikern ein.

Italien lehrt: Am Ende eines Prozesses zu einer gemeinsamen Erinnerung steht die Nivellierung der Erinnerung. Die Vorgänge um den 25. April zeigen, wie die historische, staatsbürgerliche Kraft der Erinnerung verdrängt werden kann – und aus einem Nationalfeiertag ein Frühlingsfest wird.