Eine Italienerin und ein Deutscher. Die Väter waren im Zweiten Weltkrieg auf entgegengesetzten Seiten der Logik von Hass und Vergeltung zum Opfer gefallen. 60 Jahre später kommt es zu einem Treffen von Guglielmina und Peter
Mailand/Gubbio – Das ist die Geschichte einer bemerkenswerten Begegnung zwischen einem Deutschen und einer Italienerin. Er, Peter, Sohn eines Militärarztes, der beim Rückzug der Wehrmacht im Frühsommer 1944 von Partisanen in Gubbio getötet wird. Sie, Guglielmina, Tochter eines der 40 Bürger der Stadt, die als Vergeltung für das Attentat hingerichtet werden. Durch Zufall treten sie 60 Jahre später in Kontakt, schreiben einander Briefe, es kommt zu einem Treffen. Das bleibt für beide (und ihre Familien) eine Privatbeziehung, bis Guglielmina 2012 nach einer schweren Krankheit stirbt. Kurz vor ihrem Tod, übergibt sie den Briefwechsel dem Journalisten Giacomo Marinelli Andreoli, der auf dieser Grundlage eine Erzählung schreibt: Nel segno dei padri. La storia di Guglielmina e Peter – „Im Zeichen der Väter. Die Geschichte von Guglielmina und Peter“ – erschienen 2017 bei Marsilio (Venedig).
Im September 2003 unternimmt das Ehepaar Peter und Ursula Staudacher aus der Hansestadt Gardelegen im Altmarkkreis Salzwedel eine Reise nach Italien. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Peter Staudacher, der zu DDR-Zeiten nicht nach Westeuropa reisen konnte, besucht Gubbio, die altehrwürdige Kleinstadt in Umbrien nördlich von Perugia. Hier, so weiß er, ist sein Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen. Erschossen von Partisanen, als er in einem Café eine Tasse Kakao trank. Am 20. Juni 1944 – viel mehr weiß Peter Staudacher nicht. Das Auto des Ehepaars hält an einem Platz, der den „Quaranta Martiri“ des 22. Juni 1944 gewidmet ist. 22. Juni? Zwei Tage, nachdem sein Vater gestorben war, wundert sich der Deutsche.
Der historische Hintergrund
Der historische Hintergrund in Stichworten: Nach der Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien (Juli 1943) , dem Sturz Mussolinis sowie dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Italien und den Alliierten besetzen deutsche Truppen ab September 1943 Nord- und Mittelitalien. Mühsam und unter großen Verlusten auf beiden Seiten überwinden die alliierten Kräfte die Verteidigungslinien der Wehrmacht – zum Beispiel im Mai 1944 die Gustav-Linie bei Montecassino – und rücken weiter nach Norden. Rom wird am 4. Juni befreit. Die Deutschen ziehen sich langsam auf die sogenannte Gotenstellung (hinter die Linie zwischen Pisa und Rimini/Pesaro) zurück. Die Alliierten erreichen in Umbrien Orte wie Terni, Foligni und am 20. Juni Perugia.
In den noch von Deutschen besetzten Gebieten Umbriens kommt es immer wieder zu Aktionen von italienischen Widerstandsgruppen. Mitglieder etwa des Gruppo di Azione Patrottica (GAP) hoffen, die Stadt Gubbio noch vor Eintreffen der Alliierten zu befreien. Partisanen verüben am 20. Juli in einem Café der Stadt eine Attentat auf zwei deutsche Soldaten, bei dem der Militärarzt und Reserveoffizier Kurt Staudacher stirbt. Auf Befehl des Kommandanten der in Umbrien stationierten 114. Jäger Division, General Karl Boelsen, werden anschließend bei einer Strafaktion wahllos 40 Bürger Gubbios verhaftet und am 22. Juni im Morgengrauen von Soldaten des II. Bataillons des 721. Regiments der 114. Jägerdivision erschossen. Der Versuch des Bischofs von Gubbio, das Massaker zu verhindern, indem er sich selbst als Geisel anbot, war von den Deutschen zuvor höhnisch zurück gewiesen worden.
„Archiviert“ im Schrank der Schande
Das Massaker von Gubbio gehört anders als das der Fosse Ardeatine bei Rom (335 Tote, März 1944) oder das von Marzabotto bei Bologna (770 Tote September/Oktober 1944) zu den weniger bekannten Kriegsverbrechen der Wehrmacht und der SS in Italien. Keiner der Schuldigen von Gubbio musste sich je für seine Taten juristisch verantworten. Erst 1965 begann die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit einem Ermittlungsverfahren, das sie im September 1967 wieder einstellte, weil Hauptschuldige wie General Karl Boelsen oder Hauptmann Eric Buckmakowski, Bataillonskommandeur in Gubbio, bereits verstorben waren.
Auch auf italienischer Seite wurde die Erinnerung unterdrückt. Die Akten der Untat von Gubbio wurden wie viele andere Dossiers zu deutschen Kriegsverbrechen in Italien Mitte der 1960er Jahre in einem Schrank im Keller der römischen Militäranwaltschaft verschlossen und „archiviert“. Die deutsch-italienischen Beziehungen, so der politische Wille in Rom, sollten anlässlich der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und ihres Beitritts in die Nato nicht gestört werden. Die Unterlagen in diesem Armadio della vergogna („Schrank der Schande“) wurden erst 1995 durch Zufall im Rahmen der Ermittlungen gegen Erich Priebke wieder entdeckt. Doch der Versuch der italienischen Militärjustiz, spät ein Verfahren wegen des Massakers von Gubbio zu eröffnen, scheiterte schließlich 2001, weil unter den Tätern keine Überlebenden mehr gefunden wurden. Die Historiker Giancarlo Pellegrini und Luciana Brunelli haben diese Geschichte in ihrem Buch Una Strage Archivata (il Mulino, Bologna 2005) beschrieben.
Einige bewegende Worte
Peter Staudacher wusste nichts von der Geschichte des Massakers, die der tödliche Anschlag auf seinen Vater ausgelöst hatte. Als er bei seinem Besuch in Gubbio entdeckt, was passiert war, hinterlässt er im Besucherbuch der Erinnerungsstätte der 40 Märtyrer einige wenige, bewegende Worte. Die liest Guglielmina Roncigli, Tochter von Vittorio Roncigli, der 1944 beim Massaker hingerichtet wurde, als sie ein Jahr alt war – so alt wie Peter zu dem Zeitpunkt.
Guglielmina, Vorsitzende der Vereinigung der Familien der Quaranta Martiri, gelingt es, die Adresse von Peter, Arzt wie sein Vater, in Deutschland ausfindig zu machen. Und so kommt es zum Kontakt zwischen zwei „Verlierern der Geschichte“, wie Peter in einem Brief an sie schreibt. Sie erzählen einander ihr Leben und denken über das Vergangene nach. „In meinem kleinen Sein“, schreibt Guglielmina, „möchten ich verstehen machen, dass das Verzeihen auf beiden Seiten möglich ist, wenn der Wille da ist, zuzuhören und zugehört zu werden.“
Sie treffen einander auf dem Miltärfriedhof von Pomezia, wohin der Leichnam von Kurt Staudacher von Gubbio aus 1956 umgebettet worden war. Ein Foto zeigt sie am Grab. Im letzten Brief, der Guglielmina kurz vor ihrem Tod erreicht, kommentiert Peter das Foto. Es zeige sie „wie zwei verlorene Kinder“, die alt geworden seien und „die einander nach einem langen Leben getrennt voneinander zum ersten Mal treffen, um sich miteinander zu versöhnen.“ Obgleich, so schreibt er weiter, „sie nichts getan haben, das eine Versöhnung verdient.“
Doch: sie haben einander getroffen, in die Augen geschaut, die Hände gereicht, geredet, zugehört. Vielleicht haben sie im Kleinen viel für die deutsch-italienische Versöhnung getan, wie andere, lokale Initiativen auf andere Weise auch – etwa die Stiftung der Friedensorgel für die Kirche von Sant’ Anna di Stazzema. Wohingegen man sich im Großen oft noch schwer tut, wie es die Diskussionen einer deutsch-italienischen Historikerkommission gezeigt haben. Oder wenn man sich politisch auf zeremonielle Treffen an Jahrestagen beschränkt.
Es wäre jedenfalls an der Zeit, die Geschichte von Guglielmina und Peter auch im deutschen Sprachraum nachzulesen zu können. Doch wie man bei Marsilio in Venedig sagt, hat sich noch kein deutscher Verlag für die Rechte des Buches interessiert.
Giacomo Marinelli Andreoli: Nel segno dei padri. La storia di Guglielmina e Peter. Marsilio Editore, Venezia 2017. 187 pp, 16,50 Euro.
Siehe auch auf Cluverius: Ein Atlas der Gewalt. Bilanz der Massaker gegenüber der Zivilbevölkerung in Italien 1943/45
Siehe zudem den Beitrag von Filippo Focardi und Lutz Klinkhammer „Il ritorno del passato – La ‚riscoperta‘ dei crimini nazisti e la riapertura della questione degli indennizzi per le violenze nazionalsocialiste.“ In: „Italia e Germania dopo la caduta del Muro. Politica, cultura, economia.“ A cura di Monica Fioravanzo, Filippo Focardi, Lutz Klinkhammer. Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma (12). Viella editrice, Roma 2019