WO SICH HIMMEL UND ERDE BERÜHREN


Die Landschaft als Protagonist : In Rovigo erzählt die Ausstellung „Cinema!“, wie das Po-Delta italienische Kinogeschichte geschrieben hat.  

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Einsamkeit und Melancholie – Monica Vitti in „Deserto rosso“ (1964) von Michelangelo Antonioni

Rovigo (Palazzo Roverella bis 1.7.2018) – Was haben Viscontis Film „Ossessione“ (1943), Antonionis „Il grido“ (1957) und Montaldos „L’Agnese va a morire“ (1976) gemeinsam? Diese Kinofilme wurden im Polesine, im Schwemmland des Po-Deltas gedreht. Wie viele, viele andere Produktionen auch. Die Ausstellung „Cinema!“, die im Palazzo Roverella  zu sehen ist, geht von rund 500 (!) Spiel- und Dokumentarfilmen sowie TV-Serien aus, die hier entstanden sind. Mit dem Untertitel „Geschichten, Protagonisten, Landschaften“ werden Videoausschnitte, Fotos von Dreharbeiten, Szenenfotos, Plakate, Drehbücher, Kartenmaterial sowie andere Dokumente von den 1940er Jahren bis heute gezeigt. Der Kurator Alberto Barbera und seine Mitarbeiter haben einen faszinierender Parcours durch die italienische Filmgeschichte gesteckt, der zugleich die Geschichte einer Landschaft erzählt.

Eine herbe, ganz eigene Landschaft findet man im Delta des Po. Das Polesine bildet gleichsam ein Niemandsland zwischen Meer und Kontinent, wo sich der Fluss, müde geworden und in unzählige Arme geteilt, der Adria überlässt. In dieser einzigartigen Pflanzen- und Tierwelt müssen Fischer und Landwirte bis heute hart mit der Natur ringen. Mit seinen wechselnden Stimmungen und Lichtspielen, seiner Einsamkeit und Melancholie hat dieser Landstrich immer wieder Besucher fasziniert, Künstler und vor allem Filmemacher angezogen.

Ein Denkmal für das Leben der Fischer

Eine bis dahin wenig bekannte Darstellerin wie die 20jährige Sophia Loren wurde hier in „La donna del fiume“ (1954, Regie: Mario Soldati) zum Star. Der Regisseur Renato Dall’Ara und der Schriftsteller Gian Antonio Cibotto setzten in „Scano Boa“ (1961) – so der Name des letzten Streifens Land im Delta, an den die Wellen des Meeres schlagen – dem Leben der Fischer ein Denkmal.

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Plötzlich ein Star – Sophia Loren in „La donna sul fiume“ (1954)

Im Land, wo sich Himmel und Erde berühren, schlug vor allem die Geburtsstunde des Neorealismus. Am Anfang stehen Luchino Visconti, der in „Ossessione“ den Alltag des Polesine mit einer amerikanischen literarischen Vorlage (James M Cain „Wenn der Postmann zweimal klingelt“) verbindet. Und Roberto Rossellini, der hier die Schlussepisode seines Films über den Widerstand „Paisà“ (1946) drehte.

Michelangelo Antonionis Erkundungen

Michelangelo Antonioni begann seine Erkundungen das Deltas mit dem kurzen Dokumentarfilm „La gente del Po“ (1947) – über ein Drittel des seit 1943 gedrehten Materials ging allerdings in den Kriegswirren verloren. Der aus Ferrara stammende Regisseur kehrte dann 1957 ins Polesine zurück, um mit Steve Cochran und Alida Valli sein Meisterwerk „Il grido“ zu produzieren. Eindrucksvoll begegnet uns dann sieben Jahre später Monica Vitti in „Deserto rosso“. Der Film ist vielleicht der Höhepunkt von Antonionis Untersuchungen über die Unfähigkeit zu kommunizieren.

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Dreharbeiten längs von Wasserstraßen – das Team um Pupi Avati (1976)

Aber im Polesine entstand auch Arbeiten etwa von Pupi Avati oder Tinto Brass. Alberto Lattuada verfilmte früh (1948) Riccardo Bacchellis historischen Roman „Il mulino del Po“. Giuseppe Bertolucci drehte 1988 Teile von „I Cammelli“ in Ariano Polesine.  Ob Drama oder Komödie, Reportage oder Historienfilm, die Liste der Namen der Kino- und auch Dokumentarfilme, die dem Besucher in der Ausstellung begegnen, will nicht abreißen. Bis u.a. zu Elisabetta Sgarbi, die in „Racconti d’amore“ (2013) 75 Minuten lang die Landschaft zum Protagonisten macht.

Für Kinobegeisterte, die diese Ausstellung nicht sehen können, bietet der toll aufgemachte Katalog (SilvanaEditoriale) reichlich Text- und Bild- Material. Er liest sich auch wie ein Begleitheft zum letzten Teil der anregenden Reisebeschreibung entlang des Po von Paolo Rumiz („Die Seele des Flusses“), die gerade auf Deutsch im Folio Verlag (Bozen/Wien) erschienen ist.

Cinema! Storie, protagonisti, paesaggi. Palazzo Roverella, Rovigo, tgl. 9-19 (sonn- und feiertags bis 20) Uhr. Bis 1.7.2018. Info: palazzoroverella.com
Katalog: Silvana Editoriale 28 Euro (in der Ausstellung 24 Euro) 

 

Paolo Rumiz: Die Seele des Flusses. Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Bozen und Wien. 319 Seiten, 24 Euro

 

Über den Ort Rovigo siehe auf Cluverius ein „Unterwegs“. In Kürze folgt ein ausführliches Interview mit Paolo Rumiz über seine Reisereportage „Die Seele des Flusses“.