„DU MUSST MAL RAUS!“


Wie der deutsche Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Andreas Kipar von Mailand aus grünes Credo umsetzt. Jetzt wurde sein internationales Studio LAND mit einer Sonderauszeichnung des deutsch-italienischen Wirtschaftspreies Mercurio 2018 geehrt

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Im Grünen ist es am schönsten – Andreas Kipar, Gründer und CEO des Studios LAND (Landscape, Architecture, Nature, Development)

Mailand – „Das war bewegend.“ Andreas Kipar, der Gründer des Mailänder Architekturbüros LAND, zeigt auf seinem Smartphone das Video, das er morgens um 5.30 Uhr auf dem Karstgipfel San Michele bei Gorizia aufgenommen hat. Zwei Trompeter, ein Österreicher und ein Italiener, spielten den militärischen Trauergruß „il Silenzio“. Am 29. Juni 1916 hatten hier österreichische Truppen bei einem Morgenangriff zum ersten Mal in großem Stil Giftgas gegen Stellungen der Italiener eingesetzt. Mehrere Tausend Soldaten ersticken, darunter auch viele Österreicher, denn der Wind hatte sich während des Angriffs gedreht und das Gas blies dann den K&K-Truppen selbst ins Gesicht.

Vor zehn Jahren hatte der Landschaftsarchitekt vom damaligen Regionalpräsident der Region Friaul Julisch Venetien Riccardo Illy – aus der Familie der Triestiner Kaffeeröster – den Auftrag bekommen, einen Masterplan für das Karstgebiet im Vorlauf der Feierlichkeiten zum Ende des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren auszuarbeiten. „Über das Gelände war inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes Gras gewachsen“, erzählt der 1960 in Gelsenkirchen geborene Andreas Kipar, Buschwerk hätte alle Spuren verdeckt. Nach seinen Plänen wurde die Landschaft dann punktuell entforstet. Schützengräben konnten wieder freigelegt werden. Aussichtsplattformen entstanden und Wanderwege wurden angelegt. „Das Nichtsichtbare wurde wieder sichtbar.“

Kein Krieg mehr gegen die Natur

Inzwischen hat ihn die Stiftung der Regionalbank CariGo (Bankgruppe Intesa Sanpaolo) beauftragt, Strategien zur Entwicklung des lokalen Raums auszuarbeiten (CariGo Green). Mit der Co-Finanzierung vieler kleiner Projekte vom Tourismus über Vereinsstrukturen bis zur naturverpflichteten Landwirtschaft wird jetzt der Naturraum erhalten, als kultureller Erinnerungsraum gepflegt und bekommt als Wirtschaftsraum eine Perspektive für die Zukunft. Die ersten Projekte sollen im September starten. Landschaft schaffe, so der Architekt und Visting Professor an der technischen Universität Mailand, regionale Identität. Ein Begriff wie „Heimat“ fülle sich konkret. Landschaft dürfe man nicht Logistik-Unternehmen wie Amazon mit ihren riesigen Hallen und einem System von Zufahrtsstraßen überlassen. „Stop war on Nature!“, Jeremy Rifkins Warnruf ist Andreas Kipar zum Lebensmotto geworden: kein Krieg mehr gegen die Natur.

Dem heute 58jährigen ist das Denken in Kategorien, die vom Kleinen ausgehen, nicht fremd. Nach der Realschule absolvierte er in Gelsenkirchen ganz bodenständig eine Lehre als Gärtner – „heute, in Zeiten des urban gardening darf man das ja wieder erzählen“. Anschließend studierte er an der Fachhochschule Essen Landschaftsarchitektur. Als er den Abschluss (Dipl. Ing) in der Tasche hatte, sagte sein Professor zu ihm, „Kipar, du bist mir zu unruhig, du musst mal raus.“ Dann also auf nach Italien, auf Sardinien lebte zeitweilig eine Schwester. Überhaupt Italien: war es nicht mit seinen Kulturlandschaften seit der Romantik Zielort deutscher Sehnsüchte? Und gab es nicht gleichzeitig Industriebrachen, die etwa in und um Mailand auf neue Bestimmungen warteten?

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Grünanlagen als Vermittler – Porta Nuova/Garibaldi

Wer aus dem Ruhrpott kommt, krempelt die Ärmel auf und packt zu. Schnell ist Andreas Kipar in Projekte wie den Nordpark am Stadtrand von Mailand auf einem ursprünglich für Industrieentwicklung ausgeschriebenen Gelände verwickelt. Und Kipar plant mit, pflanzt Bäume, kurvt selbst mit der Bauraupe durchs Gelände und gestaltet kleine Hügel. Im Jahr 1985 gründet er (zusammen mit Giuseppe Sala) ein eigens Studio – ein furioser Karrierestart? Nicht doch, sagen Mailänder Freunde, die es gut mit ihm meinen. Hänge erst noch ein Studium auf Italienisch an. Also geht der junge Deutsche wieder zur Uni, ans Polytechnikum Mailand, studiert Architektur und Städteplanung, wird zum „Dr.(I) Arch.“ oder kurz „Architetto“.

Erschließung neuer öffentlicher Stadträume

Mailand (1,3 Millionen Einwohner) wird ihm zum Labor. Die lombardische Wirtschafts- und Finanzmetropole ist mit 7500 Einwohnern pro Quadratkilometer eine der Städte mit der höchsten Bevölkerungsdichte Europas – München, das nach deutschen Verhältnissen als besonders dicht besiedelt gilt, bringt es gerade mal auf 4700 Einwohner je Quadratkilometer. In Netzwerken zwischen privaten und öffentlichen Auftraggebern sind Andreas Kipar und das Studio LAND seit der Jahrhundertwende immer dabei, wenn ehemals Privatgrund von Maserati oder Fiat, Alfa Romeo oder Pirelli sich der Stadt als freier, als öffentlicher Raum wieder erschließen.

Einer der Höhepunkte ist das Neubauviertel zwischen dem Garibaldi-Bahnhof und der Porta Nuova mit den Hochhäusern, die Mailand eine neue Skyline beschert haben. Darunter das 200 Meter hohe Uni-Credit-Zentrum an der Piazza Gae Aulenti. Kipar ist an der Planung beteiligt. Grünflächen werden nicht irgendwie am Ende zugegeben, sondern sind von Anfang als Vermittler, als Scharniere zwischen den Bauwerken vorgedacht. Ein Paradigmenwechsel, so der Architekt, habe sich vollzogen: Landschaftsplanung sei kein Mitläufer mehr, sondern Vorläufer.

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Neuer Stadtraum – ehemaliges Gelände von Alfa Romeo (Portello) in Mailand

In Mailand entwickelt er ein Strahlenmodell, das vom Zentrum ausgehend alte und neue Grünflächen bis über den Stadtrand hinaus verbindet. Diese „raggi verdi“ („grüne Strahlen“) ineinander fließender begrünter Areale, regenerierter Industrieflächen und neu zu entwickelnder Stadtviertel sind ein Beispiel von „entschleunigter Mobilität“ bei einer vormals allein dem Autoverkehr und der Geschwindigkeit verpflichteten Organisation der Stadt. Nicht nur in Mailand. Die grünen Strahlen gelten heute als internationales Modell für ganzheitliche Stadt- und Raumplanung.

Essen grüne Hauptstadt Europas

Mit diesem Denken hat er zusammen mit anderen etwa die Planung für die Umgestaltung Essens vorangetrieben. Die EU-Kommission zeichnete die Ruhrmetropole 2017 mit dem Titel einer „grünen Hauptstadt Europas“ aus. Jetzt soll in Hinblick auf die Internationale Gartenbauausstellung 2027 eine „grüne Dekade Ruhrgebiet“ folgen. Planungen der preisgekrönten Smart City in Rublyovo-Arkhangelskoye (bei Moskau) sowie der Expo Dubai 2020 bedienen sich ebenfalls dieses Modells. Andreas Kipar, so wird deutlich, ist kein Ideologe von Biotopkulturen und hat auch keine Berührungsängste, was die Auftraggeber angeht. Projekte laufen auch im Airolo-Tal am Ausgang des Gotthart-Tunnels nicht. Und langsam wächst der Luthergartens in Wittenberg zu einem Stadtpark heran.

Das Studio LAND hat eine ganze Reihe Preise und Anerkennungen erhalten. Als das Studio jetzt mit einer Sonderauszeichnung des deutsch-italienischen Wissenschaftspreises Mercurio 2018 geehrt wurde, war das für seinen Gründer eine besondere Genugtuung. Denn, so Andreas Kipar, „die Landschaftsarchitektur wird als wichtiger Identifikations- und Entwicklungskatalysator für unsere Gesellschaft anerkannt.“

Ein blühender Stadtgarten

Wenn Andreas Kipar erzählt, hört man den Ruhrpott-Jargon immer noch heraus. In Mailand, von dem aus er international agiert, hat er längst Wurzeln geschlagen. Er ist mit einer Mailänderin verheiratet, zwei Töchter wachsen – natürlich zweisprachig – in der Familie auf. Viele Jahre engagierte er sich an der deutsche Schule – und organisierte nebenbei einen Um- und Neubau des Schulgebäudes in der Via Legnano. Zurzeit steht der gläubige Christ als Präsident der lutherischen Gemeinde Mailands vor. Der lange etwas traurige Freiraum um die zentral gelegene Kirche in der Via De Marchi wurde unter ihm zu einem – wen wundert’s – blühenden Stadtgarten und sozialem Treffpunkt. Im Lutherjahr wurde hier ein kleiner Kirchentag der evangelisch-lutherischen Gemeinden ganz Italiens abgehalten.

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Blühende Landschaften im Hinterhof – Studio LAND (Mailand)

Im Mailänder Studio in einem – selbstverständlich begrünten – Hinterhof unweit der Porta Garibaldi arbeiten rund 50 Mitarbeiter. Niederlassungen von LAND gibt es auch in Düsseldorf und Lugano mit 15 bzw. 5 Beschäftigten. Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre. Der 58jährige Geschäftsführer mit graumelierten kurzgeschnittenen Haaren in meist legerer Kleidung fühlt sich da manchmal wie ein Übervater. Für die Zukunft wünscht er sich den Standort Mailand seines Unternehmens als eine Art Campus. Junge Architekten, Urbanisten, Agronomen sollten hier ein, zwei Jahre lang „den Grundschliff“ bekommen und dann „draußen in Italien, Deutschland, in der ganzen Welt unsere Projekte realisieren.“

Ein ähnlicher Text ist in der Süddeutschen Zeitung am 4.7.2018 erschienen.

Hier zum Premio Mercurio auf Cluverius.