CHAOTISCH, UNORDENTLICH, GENIAL


Umberto Boccionis Weg zum Futurismus – eine Ausstellung in Mailand

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Umberto Boccioni „Elasticità“ (1912) 100 x 100 cm

Mailand (Palazzo Reale bis 10.Juli 2016) – Nichts sollte mehr so sein wie früher. Eine neue Kultur wollte Bewegung, Geschwindigkeit und Zeitabläufe in Poesie, Musik und bildende Kunst übertragen. Das war das Ziel der Futuristen am Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Im Jahr 1909 hatte der italienische Poet Filippo Tommaso Marinetti in einem „ersten futuristischen Manifest“ traditioneller, gegenständlicher Kultur eine Absage erteilt. Mit von diesen Ideen geprägten Gemälden, Skulpturen und Zeichnungen beeinflusste Umberto Boccioni (1882 -1916) die europäische Kunst. Mailand widmet Boccioni, dem vielleicht bedeutendsten Vertreter dieser neuen Avantgarde, 100 Jahre nach seinem Tod eine umfassende Retrospektive im Palazzo Reale. Gezeigt werden 280 Exponate – Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und Dokumente auch von Mitstreitern wie Giacomo Balla, Gino Severini, Carlo Carrà und anderen.Die chronologisch aufgebauten Ausstellung verfolgt den Werdegang von Umberto Boccioni zwischen Rom, Mailand und Paris auf der fiebrigen Suche nach einer eigenen, zeitgenössischen Sprache. Er fühlt sich von Postimpressionisten wie Balla angezogen, lässt sich vom Symbolismus eines Previati beeinflussen, wird aber nicht müde, in der Kunstgeschichte nach Anregungen zu suchen und besucht auf Reisen zwischen Moskau und München Museen aller Art.

Boccioni Madre 1915

Porträt der Mutter (1915)

Eine originelle und neue Kunst 

Vom Künstler illustrierte Tagebücher aus der Getty Research Library von Los Angeles zeigen, wie Boccioni sich an Renaissancekünstlern (Albrecht Dürer) reibt und sich an Zeitgenossen (Anders Zorn) abarbeitet. Ein Wissen, das er sich chaotisch, unordentlich, als Autodidakt angeeignet hat, fließt so mit Strömungen der frühen Avantgarde zusammen. Den letzten Anstoß zu einer originellen und neuen Kunst gibt der Aufruf von Marinetti. Zusammen mit ihm und anderen verfasst Boccioni dann 1909 eine zweites Manifest, „das Manifest der futuristischen Malerei“.

Leihgaben von Museen aus aller Welt (Metropolitan New York, Musée Rodin Paris ,Kunsthistorischen Museum Wien u.a.) machen die Ausstellung zu einem Ereignis. Farbenprächtige Gemälde, zum Beispiel die „Dynamik eines Radfahrers“, stehen neben einem Corpus von selten ausgestellten Zeichnungen. Und das Porträt seiner Mutter durchzieht in immer neuen Variationen die Entwicklung des Künstlers.

Umberto Boccioni stirbt 1916 im Alter von nur 34 Jahren als Soldat an den Folgen eines Unfalles. Viele seiner Mitstreiter wenden sich in Italien nach dem ersten Weltkrieg wieder der gegenständlichen Malerei zu. Doch nehmen spätere Strömungen, etwa der Surrealismus, die Lehren von Boccioni begierig auf. Parallel zur Ausstellung lohnt ein Besuch der großen Sammlung der Futuristen  im Mailänder Museo del Novecento direkt neben dem Palazzo Reale.

Umberto Boccioni – Genio e memoria. Palazzo Reale, Mailand bis 10. Juli 2016. Katalog (Electa), 29 Euro in der Ausstellung, 34 Euro im Handel.

Zum Thema siehe auch „Kunstzeitung“ (Mai 2016) sowie „Stuttgarter Zeitung“ vom 4.5.