Carl Wilhelm Macke:
Claudio Magris zum 80. Geburtstag
Ferrara/München/Triest – „Das ist das Dumme an Erinnerungen“, sagte der kürzlich verstorbene Wilhelm Genazino einmal, „eine einzige würde mir genügen, aber es überfallen mich gleich Dutzende.“ Um Claudio Magris zu seinem 80.Geburtstag zu gratulieren, reicht mir ein einziger autobiographischer Rückblick…
Irgendwann in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zugfahrt von Nord nach Süd, von Hannover nach Florenz. Meine große Italien-Begeisterung war bereits gezündet. Von der Mutter, die mir in der Kindheit immer mit leuchtenden Augen von ihren 1933 am Lago di Bracciano verbrachten Monaten in einem vatikanischen Castello erzählte ( – siehe auf Cluverius: Die Villa am See). In späteren Jahren kamen die Filme mit Don Camillo und Peppone hinzu. In den „roten Jahren“ der Studentenbewegung schwärmte ich für die italienischen Klassenkämpfe, sang zusammen mir Freunden „Bella Ciao“, reckte die Fäuste für die „Resistenza“.
Ein Buchstabe irritierte
Für mich existierte damals eigentlich nur „Italia rossa“. Es gab Zeiten, da versuchte ich mir die wichtigsten Namen des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Italiens mit Namen und Funktion zu merken. Goethes „Italienische Reise“ galt mir wenig, die Lektüre der Texte von Massimo Cacciari über die Arbeiterkämpfe bei FIAT sehr viel. Und irgendwann in dieser Zeit erschien dann in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Artikel über deutsche Literatur und ihre Rezeption in Italien. Den Autor schien ich auch schon von seinen Kommentaren aus der linken Tageszeitung „il manifesto“ zu kennen. Dort aber schrieb ein Magri und nicht Magris, wie ich bei der nochmaligen Lektüre des Artikels irritiert bemerkte.
Ein einziger Buchstabe hatte mich stutzig gemacht und mich herausgelockt aus meiner so bornierten linken Italien-Sehnsucht. Sollte es tatsächlich noch andere, nicht kommunistische Journalisten und Intellektuelle in Italien geben?
Seit dieser mich verwirrenden Lektüre während einer Zugfahrt in den Süden, achtete ich immer genauer auf Veröffentlichungen eines Autors mit dem Namen Claudio Magris. Seine Essays und literarischen Arbeiten führten mich nicht weg vom klugen Antonio Gramsci, aber sie halfen mir den Weg heraus aus dem Käfig linker Einseitigkeiten zu finden. Nach und nach las ich dann alles, was Magris schrieb – und er veröffentlichte sehr viel. So fand ich immer mehr Zugang nicht nur zur zeitgenössischen italienischen Kultur jenseits linker Tageszeitungen, sondern gleichzeitig auch zur mitteleuropäischen Literatur des XX. Jahrhunderts. Wurde doch Magris in Italien und im deutschsprachigen Raum zunächst vor allem bekannt durch seine Studie über den Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur und als Kenner der Romane von Joseph Roth (Weit von wo – Die verlorenen Welt des Ostjudentums ).
Später kamen dann Veröffentlichungen über die Kulturgeschichte seiner Heimatstadt Triest, sein großes Buch über die Reise entlang der Donau (Donau – Geschichte eines Flusses ), und kleinere literarischen Arbeiten wie Ein anderes Meer oder Mutmaßungen über einen Säbel hinzu. Während „Italia Rossa“ so immer mehr verblasste und die dunklen, korrupten Seiten Italiens sichtbarer (und abstoßender ) erschienen, wurde mir das Italien, auch das Europa des Claudio Magris immer vertrauter und sympathischer.
Begegnungen mit der europäischen Literatur
Mit seinen Veröffentlichungen ( u.a. Utopie und Entzauberung, Die Welt en gros und en detail , Ein Nilpferd in Lund ) kann man sich auf Reisen quer durch die europäische Kultur begeben. Man kann die verschollene oder neuere Literatur Mitteleuropas neu oder wiederentdecken, Italo Svevo, Joseph Roth, Franz Kafka, Robert Musil, Robert Walser, Isaak Bashevis Singer. Den Namen Biagio Marin (1891-1985), seinem großen väterlichen Freund aus Grado, las ich zum ersten Mal in der Schlusssequenz des Donau-Buches: „Mach, dass mein Tod, Herr“, heißt es in einem Vers von Marin, „sei wie das Fließen eines Stroms in t’el mar grando, in das große Meer“.
Magris ist ein Intellektueller, der Manes Sperber, einen der unbestechlichsten Zeugen wider die Verbrechen des Kommunismus zu seinen engsten Freunden zählte, der sich aber auch weigert, an den Siegesfeuern für gewonnene Schlachten gegen den Kommunismus teilzunehmen. „Nicht die Antworten des Kommunismus haben Bestand, aber seine Fragen.“ In seinem Roman Blindlings gibt er denjenigen eine Stimme, die ihre Hoffnungen auf die Antworten, auf die Revolution gesetzt haben, aber dann an dem Verrat ihrer Ideale und Utopien verzweifeln. „ Auch die Revolution bricht oft mit großer Flaggengala auf, mit vielen roten Fahnen im Wind, und am Ende merkt man, dass es sich um Gehängte handelt.“
Kommentare zu Phänomen der Zeit
Begleitend zu seinen literarischen Arbeiten, schreibt Magris seit Jahrzehnten schon mit einer nie unterbrochenen Kontinuität in der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera Kommentare zu Phänomen der Zeit jenseits oder unterhalb aktueller politischer Ereignisse. Dass ein so sehr in der alt-europäischen Tradition verwurzelter Intellektueller wie Claudio Magris in Distanz steht zu allen kommerzielle und populistischen Deformierungen der Politik, versteht sich von selbst. Gerade die neueren Entwicklungen in Italien und in Europa liefern genügend Stoff für Verzweiflung, Trotzig versucht er sich aber diesen bequemen Verlockungen der Resignation und Realpolitik zu widersetzen: „Nichts ist so unmenschlich, so repressiv, tyrannisch, zynisch oder jedoch so verzweifelt wie jener falsche Realismus, der die Realität der Gegenwart als unveränderlich und endgültig betrachtet und der die Gegenwart mit dem letzten vernünftigen Zustand der Geschichte verwechselt“ (- aus seinem „Zwischenruf“ anlässlich des 25jährigen Bestehens des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung).
Seine inzwischen kaum noch überschaubaren journalistischen Artikel liegen in mehreren Büchern vor, von denen nur ein Teil auch von Ragni Maria Gschwend, seiner treuen und kongenialen Übersetzerin, in die deutsche Sprache übertragen wurden.
Der Sommer, das Gesicht des wahren Lebens
Wird Claudio Magris in der Öffentlichkeit vorgestellt wie etwa bei der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ im Jahr 2009, so wird immer wieder sein ziviles und politisches Engagement betont. Er selber aber sieht sich nicht ohne subtile Ironie eher als einen „Unpolitischen“, der den Ufern des Meeres, den städtischen Café-Häusern oder alten Bibliotheken ein ungleich größeres Interesse als irgendwelchen politischen Erklärungen und Winkelzügen der Mächtigen entgegenbringt.
Typisch hier zum Beispiel sein hinreißend verführerisches Plädoyer für den Sommer: „Es ist, als ob der Sommer die Jahreszeit und das Gesicht des wahren Lebens sei, das Aufleuchten seines Sinns, der sich nicht völlig mit den zahllosen Beschäftigungen, Mühen und Befriedigungen des Daseins deckt.“ Was Magris immer zuerst interessiert, ist jener Glanz der Dinge, von denen Michael Krüger, der ehemalige Verleger des Münchner ‚Hanser-Verlags in einem ihm gewidmeten Gedicht spricht. „Wir haben ein paar Jahrzehnte Zeit/ um den Glanz der Dinge zu sehen, /und manche von uns haben den Ehrgeiz, ihn noch zu vermehren.“
Es geht Magris immer zuerst um den Glanz des Lebens, um die Versprechungen von einem geglückten Dasein, aber auch um die Hoffnungen die mit den Idealen der Demokratie, mit den Utopien der großen Bücher der Literaturgeschichte, einschließlich auch der Bibel verbunden sind.
Die Gründe des Herzens
So nimmt er zum Beispiel die in den letzten Jahren immer heftiger aufgeflammte Diskussion über die Sterbehilfe zum Anlass, die „Gründe des Herzens“ von den „Gründen des Gesetzes“ zu unterscheiden. Es geht, so argumentiert Magris, nicht darum, die Tragik und Dramatik von existenziellen Grenzsituationen zu negieren oder zu verharmlosen Aber Gefühle allein können für ihn kein Maßstab sein, an dem allein sich ein ziviles und demokratisches Leben ausrichten lässt. Wären wir nur unseren Gefühlen verpflichtet, könnte man vielleicht sogar die Todesstrafe als eine vertretbare Sanktion in besonders schweren Kapitalverbrechen ansehen. Kein „Gesetz kann die Ansprüche des Gewissens voll befriedigen, aber es ist immer auch der Versuch, diese konkret in die Realität einzubinden und dabei melancholisch deren Grenzen und Kompromisse in Kauf zu nehmen.“
In dem immer noch geltenden aber auch immer unschärfer werdenden Panorama politischer Richtungen ist Magris sicherlich auf der Seite der demokratischen Linken einzuordnen. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Berlusconi-Regime, einschließlich der aggressiv fremdenfeindlichen Lega des Matteo Salvini und den Neo-Faschisten hat es Magris in den letzten Jahren nie an klaren Worten des Widerstands gegen diesen Verfall einer demokratischen, liberalen und weltoffenen politischen Kultur mangeln lassen.
In seinem letzten großen Roman Verfahren eingestellt (Hanser 2017), erinnert Magris an einen bizarren Pazifisten, der von der Idee besessen war, dass umso mehr Kriegsgeräte in einem Museum ausgestellt werden, umso friedlicher würde die Welt werden. Und alles andere als friedlich war die Welt für die Triestiner Juden, an deren Schicksal in der faschistischen Epoche Claudio Magris immer wieder und nicht nur in diesem Roman erinnert.
Das gute Bekenntnis vor vielen Zeugen
Andererseits bezieht er aber auch Position gegen das einfache Weltbild eines oft denkfaulen, linksliberalen Mainstreams nicht nur in der italienischen Öffentlichkeit. In den scharfen Kontroversen zwischen Laizisten und stärker religiös gebundenen Intellektuellen wie Politikern, versucht Magris die mit dem Christentum verbundenen Werte als konstitutionell für die europäischen demokratischen Gesellschaften gegen allzu aggressive Laizisten auch unter seinen intellektuellen Freunden zu verteidigen. „ Es geht nicht ganz ohne Gott,/ auch wenn er sich nie wieder zeigen wird“, wie es in dem Gedicht für Claudio Magris von Michael Krüger heißt. Würde das religiöse Gefühl ganz aus unserer Gesellschaft verschwinden, so wäre dies für Magris eine „schwerwiegende Verarmung; denn diese christliche Kultur ist eine der großen Sprachlehren und Grammatiken, die es möglich machen, die Welt zu deuten, zu ordnen und darzustellen.“
Dabei geht es Magris nicht um eine Instrumentalisierung religiöser Texte für ideologische Schlachten, wie es in unseren Tagen islamische wie christliche Fundamentalisten unternehmen. „Wer sicher ist, Gott auf seiner Seite zu haben, ist fast immer ein Betrüger“. Es geht ihm um eine aufklärende, nicht vereinnahmende Lesung biblischer Texte. In vielen seiner öffentlichen Interventionen zitiert er immer wieder aus dem 1. Timotheus-Brief des Apostels Paulus: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist, und bekannt hast das gute Bekenntnis vor vielen Zeugen.“ Den Ehrgeiz, den Glanz der Dinge zu vermehren, hat Claudio Magris nie aufgegeben
Zum 80. Geburtstage von Claudio Magris ist eine Sammlung mit kurzen Feuilletons unter dem Titel „Schnappschüsse“ (Hanser Verlag. München, 2019 ) erschienen – übersetzt wie (fast) immer von Ragni Maria Gschwend. Über den Hanser Verlag kann man auch die wichtigsten Arbeiten des Autors in deutscher Übersetzung beziehen.
Zur Person von Carl Wilhelm Macke siehe hier
Siehe auch im Archiv von Cluverius „Der Tag der Befreiung“ – ein Gespräch mit Claudio Magris über den 25. April, die Rolle des Widerstands und die politische Kultur in Italien (2008)