DER NATUR ZUHÖREN


Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston, Balzan Preisträgerin 2024, im Gespräch über die Beziehung von Mensch und Natur, den Klimawandel sowie über Wissenschaft und Kommunikation

© Fondazione Internazionale Balzan

Lorraine Daston, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissensschaftsgeschichte (em.) :“Die Natur hat in der Ideengeschichte viele Bedeutungen gehabt und hat es immer noch. In diesem Sinne ist die Natur ein Produkt von unserem Erkenntnisprozess.“

 Mailand/Rom – Die Wissenschaftsgeschichte verbindet Methoden der Geschichtswissenschaft mit der Grundlagenforschung aller Wissenschaftsbereiche und ist interdisziplinär ausgerichtet. Die Überwindung einer strengen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften gehört deshalb zu den Kernanliegen der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston. Für den Umfang, die Originalität und die Vielfalt ihres Oeuvres wurde sie im November 2024 in Rom mit dem Balzan Preis für Wissenschaftsgeschichte ausgezeichnet. Am Rande eines Forums zu den Themen der vier mit dem Balzan Preis ausgezeichneten Persönlichkeiten (siehe hier) ergab sich die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch. In dem unterstreicht sie u. a. die Bedeutung der Kommunikation von Wissenschaft mit der Öffentlichkeit.

Lorraine Daston, geboren 1951 in East Lansing (Michigan/USA) war nach Lehrtätigkeiten u. a. an den Universitäten Harvard, Princeton, Brandeis und Göttingen Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (emeritiert 2019) in Berlin. Sie ist mit dem Psychologen Gerd Gigerenzer verheiratet. Fragen an Lorraine Daston in dem auf Deutsch geführten Gespräch: 

Für einen Leonardo da Vinci, der genaue Beobachtung der Welt mit kreativem Kunstwollen verband, war Natur die Quelle aller Erkenntnis – und das gilt wohl heute noch ganz allgemein gesprochen für Wissenschaft, zumindest für die Naturwissenschaft. Nun ist der Mensch Teil der Natur, er selbst produziert Natur, was sich etwa in den Beziehungen zwischen Biosphäre und Technosphäre ausdrückt. Ist Wissenschaft für den Menschen also etwas wie Selbsterkenntnis?

 Lorraine Daston: »In mancher Hinsicht ja, das ist eine interessante Frage. Die Natur ist ein menschliches Konstrukt. Die Natur hat sehr viele Bedeutungen wie das Wort Kultur. Das sind sehr komplexe Wörter mit vielen Schichten, teilweise historische Schichten, teilweise gesellschaftliche Schichten, so wie wir Natur in ganz unterschiedlichen Kontexten anwenden. In diesem Sinne ist die Natur unsere Schöpfung. Die Natur an sich gibt es eigentlich nicht. Es gibt Milliarden von Naturphänomenen, die Entstehung von Sternen zum Beispiel, die Evolution von Leben, aber auch, wie ein Kind sich entwickelt. Das sind alles natürliche Phänomene. Alle diese Phänomene unter der „großgeschriebenen“ Rubrik Natur einzuschließen, ist ein Akt des menschlichen Geists. Denn die Entwicklung von Sternen und die Entwicklung von Kindern haben eigentlich sonst nicht viel miteinander zu tun. Die Natur hat in der Ideengeschichte viele Bedeutungen gehabt und hat es immer noch. In diesem Sinne ist die Natur ein Produkt von unserem Erkenntnisprozess. Wir haben ein Universum konstruiert, wo es zweierlei Sachen gibt. Es gibt uns Menschen und dann alles andere, die Welt der Nichtmenschen.«

Eine absurde Trennung?

 Lorraine Daston: »Das ist teilweise absurd. Wenn man dieses Gedankenexperiment weiter führt und das mit Eichhörnchen macht, gibt es die Eichhörnchen und es gibt die ganze Welt der Nichteichhörnchen. Dann sieht man, wie anthropozentrisch dieses Bild ist. Aber nichtsdestotrotz ist es für uns wichtig, weil die Natur unser einziges Beispiel von etwas ist, das der Logik der Menschheit nicht notwendigerweise folgt. Und es ist, und das war vielleicht, was Leonardo gemeint hat, es ist eine Lehre von Bescheidenheit, denn unser Geist ist nicht automatisch dafür ausgerichtet, die Natur in menschlichen Termini zu verstehen. Und deswegen müssen wir, metaphorisch ausgedrückt lernen, der Natur zuzuhören, statt die Natur in unserem Bild zu reflektieren.«

Die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Finanzmärkte, die immer wachsen und Gewinn erbringen müssen, hat das nicht Einfluss auf die Wissenschaft, weil die Wissenschaft ja Teil der Gesellschaft ist?

Lorraine Daston: Auf eine indirekte Weise auf jeden Fall. Man muss sich daran erinnern, dass die meisten Forschungen von öffentlichen Geldern finanziert wurden. Und woher kommt öffentliches Geld? Von Steuerzahlungen. Und Steuern sind eine Funktion von Finanzmärkten. Auf diese Art und Weise gibt es eine Kette von Ursachen, wo die wissenschaftliche Forschung mit den Finanzmärkten wenn nicht unmittelbar dennoch kausal verbunden ist.

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Verleihung des Balzan Preises 2024 für Wissenschaftsgeschichte an Lorraine Daston durch Staatspräsident Sergio Mattarella und der Präsidentin der Fondazione Internazionale Balzan (Premio) Maria Cristina Messa

Ist das ein Problem für die Unabhängigkeit der Wissenschaft?

Lorraine Daston: Es ist mehr noch ein Problem, bei der Finanzierung abhängig von Regierungen zu sein als von den Finanzmärkten. Also die Entscheidungen von Regierungen, welche Art von Forschung subventioniert wird und welche nicht, ist nicht notwendigerweise eine wissenschaftliche Entscheidung. Es kann sein, dass gewisse Forschungsthemen, die für die Bevölkerung wichtig sind, zum Beispiel Krebsforschung, in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. Ob es tatsächlich eine einheitliche Krankheit gibt, die Krebs heißt, scheint mehr und mehr zweifelhaft zu sein. Es gibt Familien, Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen Erscheinungen von Krebs. Aber vielleicht gibt es ganz unterschiedliche Mechanismen. Nichtsdestotrotz für die Regierungen, die besonders als demokratische Regierungen mit Recht auf die öffentliche Meinung hören müssen, gilt der Überbegriff Krebs. Das ist ein Beispiel dafür, wenn die Wissenschaftler selber die Macht hätten, ganz unabhängig vom Geldgeber ihre Themen zu entscheiden, hätten wir vielleicht eine völlig andere Forschungsrichtung.

Eine Debatte über etwas, was längst klar sein sollte

Welchen Einfluss hat die Klimakrise auf die Wissenschaft? Und wie hat sie die Wissenschaftsdebatte geprägt?

Lorraine Daston: Ich glaube, diese Debatte ist zum größten Teil ein Artefakt des Journalismus. Es gibt eine Doktrin im Journalismus, die gut gemeint ist, aber manipuliert werden kann. Im Fall vom Klimawandel war es schon in den 1990-Jahren klar, dass 95 Prozent der wissenschaftlichen Meinung von der Realität des Klimawandels überzeugt war – real auch in den Krisenproportionen. Fünf Prozent aber nicht. Aber Journalisten fühlten sich im Namen der journalistischen Objektivität verpflichtet, beiden Seiten genau so viel Zeit und Raum zu schenken. Was den Eindruck erzeugt hat, dass es tatsächlich gute Argumente auf beiden Seiten gebe und dass es eine Meinungsfrage und keine Evidenzfrage sei. Diese Doktrin der Unparteilichkeit seitens der Journalisten wurde von einer kleinen Minderheit von Wissenschaftlern ausgebeutet – einige davon von der Ölindustrie bezahlt – und die haben eine Karriere daraus gemacht. Um im Fernsehen, im Radio, in Zeitungen und dann später in sozialen Medien zu erscheinen und zu behaupten „Ja, es könnte sein, aber eigentlich gibt es Zweifel, wir brauchen mehr Forschung, bevor wir irgendetwas unternehmen.“ Das war übrigens dieselbe Taktik, die früher von der Tabakindustrie bezahlte Wissenschaftler benutzt hatten. Und bei einigen von den damals Aktiven handelt es sich um dieselben Personen, die auch die Klimakrise kleinreden. Da die Journalisten sich immer verpflichtet gefühlt haben, beiden Seiten bei jeder Frage, egal, ob es ein Gleichgewicht von Evidenz gibt oder nicht, eine Plattform zu geben, deswegen haben wir überhaupt eine Debatte über etwas, was längst klar sein sollte.

Ist es eine Gefahr, wenn etwa in der Klimafrage der Grundkonsens fehlt? Braucht Demokratie nicht diesen Grundkonsens?

Lorraine Daston: Absolut. Das ist eine riesige Herausforderung für die Wissenschaft, weil in einer Demokratie die Wissenschaftler nicht eigenmächtig entscheiden können, was die Politik machen soll. Das ist auch gut so, das wollen wir nicht als Bürger und Bürgerinnen. Aber das heißt, dass die Wissenschaftler etwas Neues lernen müssen – und das ist Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Das ist meistens kein Teil der wissenschaftlichen Ausbildung. Es ist eher Zufall, wenn eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler auf diese Weise begabt ist, klar und überzeugend sich auszudrücken. Es ist dringend notwendig, dem Wissenschaftler diese Art von Kommunikation beizubringen. Um etwas zu bewirken, zum Beispiel bei der Frage Klimawandel, braucht man absolut einen gesellschaftlichen Konsens. Und das schafft man nicht nur durch wissenschaftliche Artikel.

Von Lorraine Daston zuletzt erschienen: Regeln. Eine kurze Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 432 Seiten, 34 Euro

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Balzan Preisverleihung 2024 in Rom (im Quirinalspalast)  die Preisträger (v.l.n.r.) John Braithwaite (Australien) für Restaurative Justiz, Omar Yaghi (USA) für Nanoporöse Materialien für Umweltanwendungen, Michael N. Hall (USA/Schweiz) für Biologische Mechanismen des Alterns und Loraine Daston (USA/Deutschland) neben Staatspräsident Sergio Mattarella, Maria Cristina Messa (Präsidentin der Balzanstiftung „Premio“),  Marta Cartabia (Vorsitzende des Preisverleihungskommitees) und Gisèle Girgis-Musy (Präsidentin der Balzanstiftung „Fondo“)

Siehe auf Cluverius auch „Zwischen Mensch und Natur“