„DIE GROSSE REVOLTE“


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„L’Avanguardia“ – Collage von Nanni Balestrini

Andreas Löhrer über
Nanni Balestrinis Rückkehr nach Berlin

Vor gut 25 Jahren habe ich Nanni Balestrinis Roman Der Verleger über Giangiacomo Feltrinelli übersetzt. Es war meine erste Belletristik-Übersetzung. Ich fuhr nach Paris, um Balestrini zu treffen und ein Jahr später, nach Erscheinen des Romans auf Deutsch, kam er auch zu einer Lesung nach Hamburg. Ich kannte schon seine Romane Wir wollen alles und Die Unsichtbaren, die die politischen Bewegungen in Italien schilderten. Dass Balestrinis Werk viel umfassender ist, wurde mir erst nach und nach klar. 1990 stellte er z.B. bei der Biennale in Venedig seine grafischen Werke aus.

Experimentierfreudig war Balestrini schon immer. Er war Mitbegründer des „gruppo 63“, einer Gruppe junger Literaten, die der italienischen Literatur einen neuen Anstoß geben wollten. Schon zwei Jahre zuvor schrieb Balestrini ein Gedicht namens „Tape Mark I“, das er mithilfe eines IBM-Großrechners erstellte. Er fütterte ihn mit vier Sätzen aus vier verschiedenen Werken, darunter dem Daodejing von Laozi, und ein Algorithmus verknüpfte die Fragmente zu einem längeren Gedicht.

Von einem Medium ins andere

Die Romane, für die Balestrini in Deutschland bekannt war, repräsentieren nur einen kleinen Teil seines umfassenden Werks. Lyrik und Collagen bilden den Schwerpunkt. Doch übertrug Balestrini seine Montagetechnik von einem Medium aufs andere. Seinen Roman Tristan, Untertitel: Multipler Roman, erstellte er in 2000 nicht-identischen Exemplaren, vom Computer aus mehreren Texten, Liebesromanen, Reiseführern usw. unterschiedlich kombiniert, sodass jeder Leser ein anderes Buch vor sich hat. Dieses Konzept der Collage hat Balestrini 2012 für die documenta (13) in Kassel auf den Film übertragen und aus Nachrichtensendungen und Spielfilmauszügen Tristanoil, einen Endlosfilm von 2400 Stunden erstellt, der während der gesamten Ausstellungsdauer lief. Es geht um Umweltkatastrophen und den Finanzcrash von 2008.

Auf den Spuren von Heiner Müller

In seinen Werken würdigt Balestrini auch von ihm hochgeschätzte Kollegen wie Heiner Müller und den Avantgarde-Komponisten John Cage. „Empty Cage“ lautet ein Gedicht aus Balestrinis jüngstem Gedichtband Caosmogonia, in dem er Fragmente aus einem Interview mit John Cage lyrisch verarbeitet. Eine Passage aus Heiner Müllers Text Hamletmaschine inspirierte Balestrini zu seiner poetischen Oper Elettra, die er 2006 in Berlin aufführte.

Nun kehrt Balestrini nach Berlin zurück. Bis zum 27. Februar ist seine neue Ausstellung „Die große Revolte“ in der WeGallery (Friedrichstr. 17) zu sehen. Sie trägt den Titel seiner Trilogie über die politische Bewegung Italiens (Wir wollen alles, Die Unsichtbaren und Der Verleger) und verarbeitet das Thema in grafischen Collagen. An einer Podiumsdiskussion zur Eröffnung nahmen neben Balestrini auch Andrea Salvino, Uliano Lucas und Antonio Negri teil.

Bereits am Freitag, den 5.2.  wurde im Roten Salon der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Balestrinis literarisches Werk präsentiert. Zusammen mit Thomas Atzert, Reinhard Sauer und Jürgen Schneider stellte ich dort unseren Band Landschaften des Wortes vor, den wir im Sommer letzten Jahres zu Balestrinis 80. Geburtstag herausgegeben haben, und das im letzten Jahr im Wiener Klever Verlag erschienene Langgedicht Blackout. Neben Lesungen seiner Texte – u.a. trug der Berliner Lyriker Bert Papenfuß seine Übertragung des Gedichts „Empty Cage“ vor – hat Nanni Balestrini in einem Gespräch Auskunft über sein Leben und sein Werk geben.

Nanni Balestrini: Die große Revolte. WeGallery, Berlin. Bis 27.2.

* Andreas Löhrer, der in Hamburg lebt, übersetzt Belletristik, Biographien und Sachbücher aus dem Spanischen, Französischen und vor allem aus dem Italienischen (neben Nanni Balestrini zum Beispiel Sergio Atzeni oder Maurizio Maggiani). Zusammen mit Marina Pugliano leitet er Italienisch-Deutsche Übersetzerwerkstatt im Übersetzerhaus Looren.

Siehe auch „Die Wortlandschaften eines Nanni Balestrini“ auf Cluverius