EIN PLATZ IN MAILAND


Piazzale Loreto, der Körper des Duce und Theodor Saevecke, Gestapo-Chef von Mailand 

© Galleria nazionale d'arte moderna di Roma

Erschießung von 15 Geiseln im August 1944 – Gemälde von Alige Sassu

Mailand (Januar 1999)- An einem gewöhnlichen Sonntag Vormittag im Januar fließt der Verkehr ruhig um die grünen Inseln des Piazzale Loreto, aus denen die Licht- und Luftschächte einer großen Metro-Station ragen. An dieser Stelle kreuzen sich zwei Linien der Mailänder Untergrundbahn, von hier kommt man ebenso schnell zum Dom und zum Stadtschloß wie zum Hauptbahnhof. Kaufhäuser, viele Banken, ein paar Bars, Zeitungskioske: die zweitklassige Architektur zeigt sich von der langweiligen Seite der fünfziger und sechziger Jahre. Riesige Leuchtreklamen auf den Dächern der hohen Bürogebäude markieren den Piazzale Loreto weit hin sichtbar als topographischen Ausdruck von Fortschrittsgläubigkeit und Konsumideologie der Nachkriegsgeneration.

Das ist ein stummer Platz, der heute (fast) nichts von sich zu erzählen weiß. Und doch ist es dieser vielleicht „tragischste Platz des Landes“, auf dem die Geburtsstunde des republikanischen Italien schlug. So jedenfalls interpretiert der Historiker Sergio Luzzatto in seinem jüngsten, bei Einaudi verlegten Buch „Il corpo del duce“ (Der Körper des Duce) den Symbolgehalt des Piazzale Loreto.

Ein Ort des Nichtvergessens

Am 10. August 1944 wurden hier auf deutschen Befehl 15 Geiseln aus „Vergeltung“ für ein Attentat in der Mailänder Innenstadt erschossen. Bei dem Attentat war ein deutscher Fahrer eines Militärlastwagens leicht verletzt, sechs italienische Passanten aber getötet worden. Die Erschießung der Geiseln sollte abschreckend auf den Widerstandswillen der Bevölkerung wirken, man ließ zu diesem Zweck die Körper der Erschossenen mehrere Tage lang vor einem Bretterverschlag liegen. Stumm pilgerten zehntausende Mailänder zum Ort der Hinrichtung, der, wie Luzzatto schreibt, zum „Ort des Nichtvergessens“ wurde. Eine stille, beeindruckende Demonstration von Trauer. Von Salò am Gardasee aus, wo die Regierung des faschistischen Rumpfstaates der Repubblica Sociale di Salò ihren Sitz hatte, soll Mussolini gesagt haben: „Das Blut des Piazzale Loreto werden wir noch teuer bezahlen müssen.“

Es war der Körper des Duce selber, der ein dreiviertel Jahr später den Piazzale Loreto wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken ließ. Offenbar bei dem Versuch, Ende April 1945 an die Schweizer Grenze zu gelangen, waren Mussolini und seine Freundin Clara Petacci bei Dongo am Comer See von Angehörigen des Widerstands aufgespürt und hingerichtet worden. Man brachte ihre Körper (und die von anderen erschossenen faschistischen Hierarchen) nach Mailand, wo man sie am 29. April auf dem „Ort des Nichtvergessens“ ausstellte.

Als Foto ging diese Szene um die Welt

Die schaulustige, drängelnde, von der endgültigen Niederlage des Faschismus trunkene Menge ließ ihre Wut an den auf den am Boden liegenden Körpern aus. Um diese besser zu zeigen, zogen die siegreichen Partisanen sie an den Füßen hoch, und hängten sie wie Schlachtstücke an den Dachträger einer Tankstelle. Als Foto ging diese Szene um die Welt. „Die Resistenza kennt sich in Geschichte aus“, kommentiert Sergio Luzzatto die Ikonografie des Bildes, „das Aufhängen an den Füßen war im Mittelalter das Zeichen höchster Verachtung.“

Das Ausland, vor allem die angelsächsische Welt, reagierte aber mit Abscheu über den Voyeurismus der Menge und die Verhöhnung der Toten. Dennoch: Die Faschisten waren tot, der Widerstand hatte überlebt, die Machtfrage war entschieden. In dieser brutalen Zurschaustellung manifestierte sich zum ersten Mal das neue Italien, das sich nach den Worten der wenig später geschriebenen Verfassung auf „Arbeit und Widerstand“ gründet.

Doch das demokratische Italien wollte sich offensichtlich nicht durch eine Leichenschändung die Erinnerung an die heroische Geburt der jungen Republik trüben lassen. So setzen die Stadtplaner in den folgenden Jahren alles daran, diesen Platz als historischen Ort auszulöschen. Der Piazzale Loreto erhält das moderne, zugleich unwirtliche Gepräge, das wir heute kennen.

Die Irrfahrt eines Toten

Ebenso ängstlich geht man mit dem Körper des Duce um. Er wird anonym auf dem Mailänder Musocco-Friedhof verscharrt. Ein Jahr später graben ihn neofaschistische Heißsporne wieder aus und verstecken ihn in einem Franziskaner-Kloster unweit der deutschen lutherischen Kirche Mailands. Unter der Bedingung einer „christlichen Beisetzung“ geben die Franziskaner die sterblichen Überreste Mussolinis wieder frei.

Aber der italienische Staat hat 1946 immer noch Angst vor diesem Körper, der zu seinen Lebzeiten für Millionen von Italienern Ausdruck von Macht, Führungskraft und Potenz gewesen war. Die Regierung verweigert die Herausgabe der Leiche an die Familie, und läßt sie mit Billigung von Kardinal Schuster heimlich in einer Kirche bei Cerro am Lago Maggiore beisetzen.

Derweil „geistert“ der Körper von Mussolini durch die italienische Literatur und beschäftigt die Phantasie von Autoren wie Curzio Malaparte, Indro Montanelli oder Italo Calvino.

Letzte Station Predappio

Erst elf Jahre später und unter neuen politischen Konstellationen – die Gründung einer neofaschistischen Partei wird nicht nur geduldet, sondern vom Vatikan aus sogar gefördert – ist es möglich, Mussolini offiziell zu begraben. Die Familiengruft im Geburtsort Predappio, unweit von Bologna, ist heute noch Pilgerstätte von Nostalgikern. Der Kitsch, der da mit Fahnenschmuck (auch von deutschen Neonazis) und Devotionalienhandel getrieben wird, überdeckt, so die These von Sergio Luzzatto, daß Italien nicht nur auf Arbeit und Widerstand aufbaut, sondern auch auf Trauer.

Eine Spur von Trauer läßt sich sogar auf dem Piazzale Loreto finden: eine riesige und zugleich zwischen Bäumen etwa versteckt gelegene Tafel im Mittelstreifen der Straßenmündung zur Via Andrea Doria. Die mit Taubendreck verschmutzte Arbeit des Bildhauers Giannino Castiglioni zeigt den reliefartig hervorspringenden Körper eines Heiligen Sebastian. Doch es geht hier um keinen christlichen Märtyrer, sondern um jene 15 Geiseln, die auf deutschen Befehl an dieser Stelle 1944 erschossen worden waren. Auf der Rückseite der Tafel findet man ihre Namen – und die etwas kryptische Inschrift, daß sie „im Namen der Freiheit“  fielen. Kein Hinweis auf die Umstände, namenlos auch die Täter.

Theodor Saevecke „il boia di Milano“

Dabei wird dem, der den Befehl zur Erschießung gab, gerade  der Prozeß gemacht: Theodor Saevecke, zur fraglichen Zeit Mailänder Polizeichef und Leiter des Außenkommandos (AK) von SS, Sipo und SD in Mailand. Saevecke lebt heute 86jährig als Rentner in Bad Rothenfelde bei Osnabrück und lehnt das zuständige Turiner Militärgericht als „kommunistisch“ ab. Die Staatsanwaltschaft will erst nach einer möglichen Verurteilung – im  Mai 1999 soll der Prozeß abgeschlossen werden – die Auslieferung beantragen.

Bemerkenswert bleibt der weitere Lebensweg des Theodor Saevecke: Nach dem Krieg trat der ehemalige SS-Mann wieder in deutschen Polizeidienst ein. Er machte beim Bundeskriminalamt eine Karriere als Regierungsrat, die ihn bis in die Leitung der Sicherungsgruppe Bonn führte. Hier leitete er unter anderem 1962 die Polizeiaktion gegen Verlag und Redakteure des Spiegel wegen angeblichen Hochverrats. Ein Verfahren wegen seiner NS-Vergangenheit wurde früh eingestellt. Auch blieb eine disziplinarische Bestrafung durch das Innenministerium aus, nach dem seine Vergangenheit als Mailänder Gestapo-Chef ruchbar geworden war.

Daran, daß der Piazzale Loreto auch ein Platz deutscher Geschichte ist, erinnert heute nichts, gar nichts auf dem weiten Areal. Der Verkehr fließt ruhig an diesem sonnigen Wintertag im Januar.

Beitrag für die Berliner Zeitung, Januar 1999

Zum Thema sind erschienen:

Sergio Luzzatto: Il corpo del duce, Einaudi 1998 (Deutsche Fassung: Das Leben nach dem Tod, Eichborn 2007)

Luigi Borgomaneri: Hitler a Milano. I crimini di Theaodor Saevecke capo della Gestapo, Datanews 1997)

Auf Cluverius siehe den Gästebeitrag von Giuseppe Mazza „ Il pezzo mancante