Mario Martone erzählt in einer Art Bildungsroman von der Ziegenhirtin Lucia und beschreibt die Faszination (und das Scheitern) alternativer Lebensformen
Mailand (Cinema Anteo) – Eine Gruppe von Aussteigern aus verschiedenen europäischen Ländern suchen auf Capri in den Jahren vor Ausbruch des ersten Weltkrieges ein Refugium. Sie möchten abgeschieden vom bewohnten Teil der Insel in der Natur und mit Mitteln der Musik und des Tanzes neue Formen des Zusammenlebens ausprobieren. Für Lucia, eine zwanzigjährige Ziegenhirtin und Analphabetin, bedeutet dagegen Natur Arbeit um zu überleben. Sie fühlt sich von der Gruppe und besonders von ihrem Anführer, dem Maler Seybu, angezogen. Lucia bricht mit ihrer Familie und schließt sich der Gruppe an, wo sie Lesen, Schreiben und Englisch lernt.
Der Neapolitaner Mario Martone, der durch Arbeiten im Theater, im Fernsehen, im Kino und auch in der Oper zu den vielseitigsten Regisseuren Italiens gehört, stellt sich in seinem Film Capri-Revolution den Konflikten der Zeit: Naturfreunde/Fortschritt, Individium/Kollektiv, Wissenschaft/Religion, alte Mächte/soziale Revolten und schließlich Krieg/Frieden. Lucia verlässt Capri, als Italien mobil macht und in den Krieg eintritt. Hinter ihr bleiben die Utopien der Aussteiger, familiäre Normen und revolutionäre Ideen – diese repräsentiert in der Figur das Insel-Arztes.
Inseln sind oft „Projektionsflächen alternativer Lebensmodelle“, heißt es bei Dieter Richter im Buch „Die Insel Capri“ (Wagenbach). Das galt zum Beispiel für den Münchener Maler Karl Wilhelm Diefenbach. Als Vegetarier, Nudist und Missionar einer naturgemäßen Lebensweise versammelte er ab 1899 auf Capri eine Gruppe Schüler um sich, um dem Kult der Sonne und des Lichtes zu huldigen. Der „Kohlrabi-Apostel“, wie er heute noch auf Capri genannt wird, starb 1913. Diefenbach war der Auslöser für Martones Idee, eine Gemeinschaft von Naturjünger auf Capri darzustellen, die der Regisseur dann aber frei nach dem Modell des Monte Verità gestaltet.
Licht mit Beuys und der „Capri-Batterie
Martone mischt kräftig die Zeiten, bringt außerdem Beuys und sein Multiple „Capri-Batterie“ aus dem Jahr 1965 ins Spiel, bei dem eine Zitrone – ideell bei Beuys, real im Film – mit Naturenergie eine Glühbirne zum Leuchten bringt. „Capri-Batterie“ war sogar der Arbeitstitel des Films.
Mario Martone, der zusammen mit seiner Ehefrau Ippolita Di Majo auch das Drehbuch geschrieben hat, wollte vielleicht zu vieles zusammen bringen. Was seiner Geschichte etwas von ihrer Glaubwürdigkeit nimmt und sie letztlich auf Thesen reduziert – oder theatralisch wirken lässt. Im Gegenzug zeigt er sich verliebt in Capris Landschaft und gibt mit (zu) langen Sequenzen den Tanzerlebnissen seiner Naturjünger Raum. Mutig erhält er aber den Klang der Originalsprachen und der Dialekte, so dass der Film über weite Strecken untertitelt ist, was aber nicht stört.
Zu entdecken ist die Schauspielerin Marianna Fontana in der Rolle der rebellischen Lucia. In der Gruppe der musizierenden und tanzenden Naturjünger überzeugt Lola Klamroth als Nina.
Capri-Revolution. Mit u.a. Marianna Fontana, Reinout Scholten van Aschat, Antonio Foletto, Lola Klamroth, Janna Thiam. Regie: Mario Martone. Buch: Mario Martone, Ippolita Di Majo. Kamera: Michele D’Attanasio. Kostüme: Ursula Patzak. Choreografie: Raffaella Giordano. Produktion: Indigo Film, Pathé, Rai-Cinema. Italien/Frankreich 2018, 122 Minuten
Siehe auch auf Cluverius die Buchkritik „Vom blauen Meer umschlungen“