Die Skulptur „You“ oder Warum Maurizio Cattelan Angela Merkel sein möchte
Mailand (Galleria Massimodecarlo bis 25. 6.) – Hier hängt er nun im blauen Anzug mit Krawatte, einen Blumenstrauß in der Hand, barfuß und den Strick um in den Hals im grünen Marmorbad der Mailänder Galerie von Massimo De Carlo: eine der typischen Puppen von Maurizio Cattelan, die sein Antlitz – diesmal mit einem traurigen Lächeln – tragen. You nennt sich diese brandneue Arbeit. Aber was die einen schockiert, lässt andere nur gähnen. Cattelan, einst mit dem betenden Hitler, dem erschlagenen Papst oder dem erhängten Kind ein willkommener Provokateur und Meister der Ironie, so die Kritikerin Alessandra Mammì in der Zeitschrift Artribune, wiederhole sich nur noch müde selbst. Schockierend seien die Zeitläufe, nicht eine erhängte Puppe im Nobelklo.
Wie Katzen das Mausen nicht lassen, verabschieden sich Künstler selten von ihrer Kunst. Aber was ist mit Maurizio Cattelan, der sich weniger als Künstler und mehr als Kommunikator eines neuen Pop-Zeitalters versteht? „Ich mache Kunst, aber das ist mein Job“, hatte er mal in einem Interview gesagt. Und doch 2011, da erwischte den damals 51-Jährigen die Midlife-Crisis. Er schmiss den Job und sagte dem Kunstbetrieb ade. Das Frührentnertum hielt aber nicht lange. Ein goldenes Klo und eine Banane, die mit einem Klebeband an der Wand befestigt wird (Comedian), brachteihn wieder dahin, wo er sich zwischen seinen beiden Lebensmittelpunkten New York und Mailand wohlfühlt: ins Gerede. Der Mailänder Hangar Bicocca zeigte jetzt zu Jahresbeginn eine Ausstellung mit anderen neuen Arbeiten von Cattelan: Blind, ein 16 Meter hoher schwarzer Block aus dem in der Spitze Bug und Heck eines ebenso schwarzenFlugzeugs ragen – eine Anspielung auf 9/11. Und Breath, Herr und Hund in Originalgröße aus blendend weißem Carrara-Marmor, die sich schlafend gegenüber liegen.
Der Künstler, der im September 62 Jahre alt wird, hält sich derweil mit morgendlichen Schwimmübungen im Mailänder Cozzi-Hallenbad fit, wo man seine langen Armzüge in der Rückenlage bewundern kann, während man sich selbst, über 10 Jahre älter, auf der Nachbarbahn für Langsamschwimmer abmüht. Und sollte der Meister schon unter der Dusche verschwunden sein, bleibt seine im vergangenen Herbst entstandene monumentalen Arbeit Be water auf der Stirnwand der Halle: 30 Meter lang und bis zu 10 Meter hoch zeigt sie im Stil der Werbung der 1950er-Jahre das perfekt geschminkte Gesicht einer Schwimmerin mit lächelnden Augen, das Gesicht und ihre Hände mit leuchtend rot lackierten Fingernägeln ragen aus einem blau-grün getönten Wasser, das den Körper wie eine Decke umhüllt.
Und jetzt mit You dennoch ein neuer Abschied, ein „endgültiger Abschied“ in Form einer „neuen Freundlichkeit“, wie man zur Ausstellung bei Massimo De Carlo (bis 25. 6.) lesen kann? Gerade hat der Marsilio Verlag (Venedig) unter dem Titel „Index“ ein Buch herausgegeben, in dem die Interviews gesammelt sind, die Maurizio Cattelan mit anderen Künstlern – und manche von ihnen nur imaginär – im Laufe der vergangenen 20 Jahre geführt hat. Die römische Tageszeitung La Repubblica drehte den Spieß um, und so wie Cattelan etwa den Kollegen Francesco Vezzoli gefragt hatte, wer er sein würde, wenn er ein Politiker wäre, fragte die Zeitung nun Cattelan: „Und, wenn Sie ein Politiker wären?“ Antwort: „Angela Merkel, heute. Ich fühle mich fit für ein zweites Rentenalter.“
Maurizio Cattelan: You (2021). Galleria Massimo De Carlo (Casa Corbellini Wassermann), Mailand. Di-Sa 11- 18.30 Uhr. Bis 25.6.
Siehe auch auf Cluverius: „Manifest des Wohlbefindens“
Die neue Galerie von Massimo De Carlo in der Viale Lombardia 17 befindet sich in dem als Casa Corbellini Wassermann bekannten Gebäude, das in den frühen 1930er Jahren von dem Architekten Piero Portaluppi erbaut wurde. Das Projekt, ein Beispiel für den italienischen Rationalismus, ist eines der bekanntesten Arbeiten von Portaluppi, das sich vor allem durch die Kostbarkeit und Seltenheit der verschiedenen Marmorarten auszeichnet, die das Innere des Gebäudes ausmachen und die Fassade bedecken. Die Wendeltreppe an der Außenseite des Gebäudes war 1933 auf der Triennale von Mailand ausgestellt, die der Wohnarchitektur gewidmet war. Sie wurde von Portaluppi und dem Studio BBPR entworfen und gebaut. Das Gebäude, das zunächst ein Wohnhaus und dann für kurze Zeit die Repräsentanz einer Bank war, steht seit 2001 leer.