Neue Erdstöße in Mittelitalien haben noch mehr Menschen vertrieben und weitere historische Bauwerke zerstört. Getroffen wurde eine für die europäische Kultur zentrale Region. Wobei Bürokratie einen rechtzeitigen Schutz verhinderte
Nursia/ Amatrice/ Rom – Von der Basilika des Heiligen Benedikt in Nursia steht nur noch die spätgotische Fassade. Der Rest der Kirche des Schutzpatrons von Europa liegt in Trümmern. 3000 betroffene Kulturmonumente hatte eine Untersuchungskommission des römischen Kulturministeriums bereits nach den vergangenen Erdbeben Ende August registriert. Kirchen, Glockentürme, historische Palazzi, Museen, Stadttore, Mauern und Befestigungen alter Ortskerne, die schwer beschädigt oder fast ganz zerstört worden waren. Nach dem Beben vom Sonntag (30. Oktober) mit dem Epizentrum in Umbrien (aber mit Auswirkungen auch in den zuvor betroffenen Gebieten der Marken und des Latiums) rechnen die Beamten nun mit weiteren rund 2000 beschädigten Bauwerken und Kultureinrichtungen.
Mehre Zehntausend Menschen in den Apenninregionen habe ihre Häuser und Wohnungen verloren. Sie müssen in Hotels und Noteinrichtungen untergebracht werden, wenn sie nicht vorerst zu Verwandten und Freunden ziehen können. Auch wenn die Hilfsmaßnahmen in den ersten Tagen nach dem erneuten Beben also der betroffenen Bevölkerung gilt, sind doch eine erste vorläufige Festigung der historischen Bauwerke und Sicherung der Trümmer Voraussetzung für einen späteren Wiederaufbau.
Warum wurden bedrohte Bauten nicht geschützt?
Deshalb wird von verschiedenen Seiten gefragt, warum etwa nach den Beben der vergangenen Wochen historisch wertvolle Bauten, die jetzt nach den erneuten Erdstößen eingestürzt sind oder beschädigt wurden, nicht eingerüstet oder wenigstens mit Pfeilern abgestützt wurden. Im Corriere della Sera beschrieb der Bürgermeister des Ortes Amandola eine ganze Reihe von bürokratischen Hindernissen. So sind die Bürgermeister zwar grundsätzlich für die öffentliche Sicherheit zuständig und können sofort handeln. Das gilt aber nicht, wenn es sich um geschützte Kulturgüter handelt. Bei solchen Arbeiten müssen zunächst Genehmigungen von mehreren Instanzen eingeholt und dann die Arbeiten öffentlich ausgeschrieben werden. Und schließlich dürfen nur vom Kulturministerium geprüfte Arbeitskräfte eingesetzt werden. So wurde wertvolle Zeit verloren. Das gegenwärtige Desaster ist die Folge.
Das Beben war auch in Rom zu spüren
In Nursia gilt das neben der Benedikt-Basilika für eine ganze Reihe von Kirchen wie Santa Maria Argentea aus der Renaissance oder die Wallfahrtsstätte der Schmerzensmadonna aus dem 13. Jahrhundert. Im bereits vom Augustbeben heimgesuchten Amatrice sind jetzt auch der Stadtturm eingestürzt sowie das, was von der Kirche Sant’ Agostino noch stehen geblieben war. In Ascoli Piceno ist der Glockenturm von Sant’ Angelo Magno vom Einsturz bedroht. Das Beben war bis nach Rom zu spüren, wo es Sicherheitsgründen die Basilika San Paolo fuori le Mura gesperrt wurde. Ebenso wurden u.a. die kapitolischen Museen geschlossen. Allerdings geht man nach abgeschlossener Prüfung von einer baldigen Wiedereröffnung aller Kirchen und Einrichtungen in Rom aus.
Orte abendländischer Identität
In einem Interview mit der römischen Tageszeitung la Repubblica beschreibt der französische Anthropologe Marc Augé die mittelitalienischen Apenninregionen als „Orte der abendländischen Identität“. Die Verteidigung von Ortskernen und alten Weilern dieser Gebiete bedeute „Puzzlestücke der Geschichte unseres Erdteils zu verteidigen.“ Dazu würde die Geschichte des Christentums gehören. So wie sie sich etwa in Benedikt von Nursia als Vater des abendländischen Mönchtums am Übergang zum Mittelalter ausdrücke. Aber auch der Laizismus, der mit der französischen Revolution in Europa Fuß fassen konnte, sei Teil dieser Identität, die auf dem ganzen Kontinent verteidigt werden müsse.
„Wenn wir nicht lernen, unsere Identität zu erkennen, unsere so unterschiedlichen Identitäten, können wir auch nicht mit anderen Kulturen in einen für beide Seiten nutzvollen Dialog treten.“ Europa, so Augé, sehe sich einer Krise im Inneren durch den Zustrom der Fremden einerseits und die britische Abspaltung andererseits gegenüber. Ein Erdbeben wie dieses könne jedoch helfen, sich der Identität Europas wieder zu vergewissern.
Kann man wirklich alles wieder aufbauen „wie es war“?
Marc Augé warnt aber vor schnellen Versprechungen, alles würde „wo es war und wie es war“ wieder errichtet werden können, was besonders Vertreter des Kulturministeriums als Zielvorgabe formuliert hatten. Augé sagt dagegen: „Nichts wird mehr so sein wie zuvor.“ Der Mensch und die Natur, die Erdbeben selbst, haben in den vergangenen Jahrhunderten, „nur eine Zeugenschaft von dem übermittelt, was war.“ Aber diese Bezeugung und vor allem die Rettung von Orten wie etwa dem Forum Romanum waren entscheidend, um die Erinnerung an die römische Zivilisation zu erhalten. So komme es jetzt darauf an, von den zerstörten Bauwerken zu erhalten, was zu erhalten ist, aber vor allem darauf, ihre Lage und ihre Orte nicht zu verlieren. Zumal wenn es sich um die Kirche des Schutzpatrons von Europa handelt.
Siehe auch auf Cluverius den Beitrag über das August-Beben „Ohne die Geschichte auszulöschen“