Diogo Mainardi erzählt in „Der Fall“, wie sein Sohn mit einer schweren Behinderung aufwächst
Venedig – Ein Ehepaar auf dem Weg zum Krankenhaus, das in der Scuola Grande di San Marco hinter der prächtigen, von Pietro Lombardo 1489 entworfenen Fassade untergebracht ist. Die Frau, hoch schwanger, hat Angst vor der Geburt, das Krankenhaus ist für Behandlungsfehler bekannt. Der Mann sagt: „Bei dieser Fassade nehme ich sogar ein verkrüppeltes Kind.“ Das Kind, Tito, wird falsch behandelt und leidet seitdem unter Zerebralparese. Muskelschwäche und spastische Lähmungen sind die Folge.Der Vater, der brasilianische Journalist und Schriftsteller Diogo Mainardi, fühlt sich schuldig an der Behinderung seines Kindes und wird gleichsam als neuer, anderer Mensch geboren: „Ich bin Titos Vater. Es gibt mich nur, weil es Tito gibt.“
Mühsam, im wahrsten Sinne Schritt für Schritt, lernt Tito durchs Leben zu gehen. Den Vater immer an seiner Seite. Mit zehn Jahren kann der Junge 424 Schritte machen, ohne zu fallen. In 424 Text-Schritten (und einigen Fotografien) verfolgt Mainardi die ersten Lebensjahre seines Sohnes. Ganz kurze Texte, manchmal tagebuchartig, sachlich notiert, (fast) ohne Sentimentalitäten, mit immer wieder überraschenden, blitzartigen Assoziationen, die in die Geschichte der Literatur, des Films, der Philosophie, der Kunst oder der Politik führen. Und Privates mit Öffentlichem verbinden.
Jeder Schritt ein Thema, eine Geschichte, ein Bild.
Das ist ein umwerfend leichtes, manchmal komisches Spiel mit Situationen einer Krankengeschichte. Überzeugend auch durch die Übersetzung von Wanda Jakob, die von der ersten Zeile an einen Ton anschlägt, der nicht mehr los lässt. Jeder Schritt ein Thema, eine Geschichte, ein Bild. Und immer wieder stürzt Tito, und immer wird er wieder auf die Beine gestellt. Er lernt zu lallen und schließlich sogar zu reden.
Aber manchmal stockt dem Leser auch der Atem – zum Beispiel wenn Verbindungen zum SS-Arzt Mengele gezogen werden. Doch der Autor stürzt nicht. Alles gliedert sich in seine lakonische Art des Erzählens ein. Mit ironischer Distanz zur Behinderung und einer liebevollen Nähe zu Tito. Und man nimmt ihm sogar seine ungeheure Egozentrik nicht übel, wenn er sich zum Co-Protagonisten dieser Krankengeschichte macht und etwa seine Frau Anna ausklammert.
Wut, Liebe, Trotz, Hoffnung
In Venedig kommt Tito zur Welt. Danach ist die Familie unterwegs in Nord- und Südamerika, wo sie glaubt, ihrem Sohn besser helfen zu können. Es kommt auch noch ein gesunder Bruder zur Welt. Dann kehren die Mainardis nach Venedig zurück, wo sie heute noch leben. Und so ist dieses Buch ebenso ein Buch über Venedig, wenn auch aus dem Blickwinkel einer Behinderung. Ein Buch voller Solidarität, Wut, Liebe, Trotz, Hoffnung: „Tito geht weiter spazieren. Und ich höre auf, seine Schritte zu zählen.“
Diogo Mainardi: Der Fall. Erinnerungen eines Vaters in 424 Schritten. Aus dem Portugiesischen von Wanda Jakob. Zsolnay Verlag, Wien 2016. 175 Seiten, 17,90 Euro