Die 56. Kunstbiennale von Venedig hält der Welt einen Spiegel vor
Venedig.Es schnarrt und knurrt, summt und brummt. Noch nie war eine Biennale in ihrer Hauptausstellung im zentralen Pavillon der Giardini und in den ehemaligen Werftanlagen des Arsenale so voller Töne. Sogar ein automatisches Klavier eignet sich als Kunstwerk. Eine Turm von Trommeln des (im vergangenen Jahr verstorbenen) New Yorker Künstlers Terry Adkins ragt gleich am Anfang des Rundgangs im Arsenale in die Luft. Allerdings bleiben die Schlagzeuge stumm. Der Deutsche Olaf Nicolai benutzt dagegen im Hauptpavillon leibhaftige Sänger für seine musikalische Installation „Innere Stimme“, die er als Hommage für den italienischen Avantgardemusiker Luigi Nono und dessen Komposition „Non consumiamo Marx“ aus dem Jahr 1968 entwickelt hat. Man solle Marx nicht konsumieren, sondern gründlich lesen, so Nonos Aufruf, dem sich Nicolai heute anschließt.
Das Politische im Mittelpunkt
Womit wir schon beim Thema wären: die 56. internationale Kunstbiennale von Venedig rückt das Politische in den Mittelpunkt. Vor zwei Jahren stellte der Italiener Massimiliano Gioni noch Obsessionen und Traumbilder der Weltkunst aus. In diesem Jahr widmet sich der in Nigeria geborene Amerikaner Okwui Enwezor unter dem Motto „All The World`s Futures – Alle Zukünfte dieser Welt“ vorwiegend sozialen Problematiken: Armut und Unterdrückung, Zerstörung und Widerstand. Und Marx ist natürlich auch dabei. Bis zum Ende der Biennale am 22. November können Besucher einer integrale Lesung aller drei Bände von „Das Kapital“ in englischer Sprache beiwohnen. Ein säkulares Oratorium, das zu belegen scheint, dass die Macht eines Bildes nichts ist, wenn es nicht auch von Wörtern und Tönen begleitet wird. Wörter, die in einer Wandinstallation von Bruce Nauman das gegenwärtigen Lebensgefühl als Kreislauf beschreiben: „Life, Death, Love, Hate, Pleasure, Pain – Leben, Tod, Liebe, Hass, Vergnügen, Schmerz.“
Die Handschrift des Kurators
Man stolpert bei 136 Künstlern und Künstlergruppen in der Hauptausstellung über vielerlei Formen und Stile. Doch lässt sich die Handschrift des Kurators und sein Blick auf die politische Dimension deutlich erkennen. Es sind mehr Künstlerinnen und Künstler aus Afrika und Asien vertreten als je zuvor. Auch drängen traditionelle Formen, etwa die des Wandbildes, Rauminstallationen oder Aktionen zurück. Kunst, die in einem sozialen Zusammenhang wirken will, muss auch leicht transportabel und außerhalb musealer Zusammenhänge einsetzbar sein. Diese Biennale will nicht die Seelenlagen der Welt ergründen, sie hält ihr einen Spiegel vor. Dazu gehören verquollene Gesichter in Arbeiten von Chris Markers „Crush Art“, verletzte Körper in denen von Lorna Simpsons oder Trümmer, wie sie Katharina Grosse bedrückend farbenprächtig in einer Raum füllenden Installation ausbreitet, die wie gemalt wirkt.
Deutlich zeigt sich hier die Nähe von Okwui Enwezor zur deutschsprachigen Kunstszene. Er hat ebenso neue Gemälde eines Georg Baselitz ausgewählt oder Arbeiten von Isa Genzken, die von Carsten Höller oder von Peter Friedl. Ein Video von Alexander Kluge („Nachrichten aus der ideologischen Antike“) ist zu sehen. Und die Biennale-Organisation digitalisiert alle Filme von Harun Farocki.
Der deutsche Pavillon – eine Fabrik
Die venezianische Biennale unterscheidet sich von ähnlichen Veranstaltungen anderswo durch die oft als überholt gescholtenen Länderpavillons (in diesem Jahr sind es 89, darunter auch der des Vatikans). Doch stellen die längst keine Leistungsschau nationaler Künste mehr aus, was noch manche Architekturen wie die des deutschen Pavillons aus der NS-Zeit markig suggerieren. Unter dem Kurator Florian Ebner, dem Leiter der Fotografischen Sammlung Museum Folkwang aus Essen, umgeht der Besucher im wahrsten Sinne des Wortes diese Architektur über eine Nebentreppe, die in ein neues obere Stockwerk des Gebäudes führt. Unter dem Titel „Fabrik“ will der deutsche Pavillon eine Produktions- und Ausstellungsstätte für unterschiedliche Künstler und Künste sein. Auf dem Dach hat Olaf Nicolai eine Werkstatt für den Bau von Bumerangs eingerichtet. Im Obergeschoss dokumentiert Tobias Zielony Fotos und Zeitungsseiten über die soziale Situation afrikanischer Flüchtlinge in Deutschland. Neben einer Arbeit von Jasmina Metwaly und Philip Rizk über Kairo kann man sich dann im total abgedunkelten Erdgeschoss bequem auf Liegestühlen ausbreiten und in ein Video der Münchenerin Hito Steyerl eintauchen, in dem buntes Computerspiel und kritischer Dokumentarfilm sich vermischen. Eine mitreißende Arbeit, die allein den Besuch des Pavillons lohnt.
Kritiker beklagen die Dutzenden von Nebenveranstaltungen in Venedig, die unter der Schirmherrschaft der Biennale stehen. Als finanziell klamme öffentliche Kultureinrichtung ist sie einerseits auf Einnahmen angewiesen, die mit der Schirmherrschaft verbunden sind, auf der anderen Seite hat sie keinen inhaltlichen Einfluss auf diese Veranstaltungen. Dazu kommen die privaten Ausstellungen der Großsammler im Palazzo Grassi/ Punta della Dogana (Pinault), bei der Peggy-Guggenheim-Stiftung oder in der venezianischen Niederlassung der Fondazione Prada. Pinault, Prada und die anderen sind wiederum Staranimateure des glamourösen Zirkus, der sich mit Empfängen und Galadiners um die Biennale spannt und die Klatschseiten der Regenbogenpresse füllt. Fährt Bernard-Henry Lévy wieder im gemieteten Motorboot vor? Wer darf mit Salma Hayek mit am Tisch sitzen? Da kann die integrale Lesung des Kapitals schnell zu einer Fußnote werden.
56. Esposizione Internazionale d’Arte. Giardini della Biennale, Arsenale und an anderen Orten, Venedig 9.5. – 22.11. tgl. 10 – 18 Uhr. Eintritt 25 Euro, Katalog (Marsilio) 99 Euro, Kurzführer 18 Euro. Info: www.labiennale.org
Siehe auch „Engel der Geschichte – Okwui Enwezor über seine Biennale“
Erstveröffentlichung in der Stuttgarter Zeitung vom 9.Mai 2015