IN DER SCHWEBE


Fiktion und Realität vermischen sich in dem Kinofilm „Anna“ von Marco Amenta über einen Bauskandal an der Südküste Sardiniens. Erinnerungen an einen alten Bauern und Hirten, der am Capo Malfatano ein Konsortium von Großunternehmern herausforderte, werden wach

© Eurofilm/Rai Cinema

Mit Wut im Bauch: Im Kampf um ihr Recht gedemütigt, versucht Anna (Rose Aste) sich von inneren Spannungen zu befreien

Mailand (Cinema Palestrina)/Cagliari – Als eines Tages Baumaschinen vor ihrer Haus- und Stallanlage unweit des Meeres an der Küste Sardiniens auftauchen, versteht Anna die Welt die mehr. Auf einem Grundstück, das , so glaubt sie, einst ihrem verstorbenen Vater gehört hat, soll ein luxuriöser Hotelkomplex entstehen. Die junge Hirtin und Bäuerin, die sich nach einer gescheiterten Ehe in Mailand aufs Land ihrer Heimat zurückgezogen hat, um mit einer kleinen Ziegenherde und einer Kuh Käse für den lokalen Markt zu produzieren, beginnt einen schier aussichtslosen Kampf um ihre Existenz und den Schutz der Natur ihrer Heimat. Das ist die dramatische Ausgangssituation im Spielfilm „Anna“ von Marco Amenta, der in den italienischen Kinos angelaufen ist. Die Protagonistin – großartig interpretiert von Rose Aste – mag eine cineastische Erfindung sein, doch ruft der Film wirkliche Vorgänge wach.

Vor rund 15 Jahren begann das Konsortium Sitas im Süden der Insel an der Landzunge Capo Malfatano, einem der schönsten Küstenstreifen Sardiniens, mit den Arbeiten einer riesigen, kaum 300 Meter vom Meer entfernten Anlage mit Wohn- und Ferienhäusern, einem Hotelkomplex und Serviceeinrichtungen mit 150 Kubikmeter Zement auf insgesamt 700 Hektar Bodenfläche. Das Unternehmen, in dem sich italienische Großunternehmer wie der Baulöwe Caltagirone aus Rom, der Benetton-Konzern aus Venetien oder das Bankhaus Monte die Paschi aus Siena zusammen geschlossen hatten, erhielt zwischen 2008 und 2010 in Umgehung aller Naturschutzvorschriften die notwendigen Baugenehmigungen von der zuständigen Gemeinde Teulada. Die wiederum träumte von touristischer Entwicklung ihres Ortes als ein „Rimini an der Costa del Sud“ und von tausenden Arbeitsplätzen für die lokale Bevölkerung.

© Cluverius

Ovidio Marras bei einem Besuch 2011 in seiner Kate

Doch Investoren wie Lokalpolitiker hatten die Rechnung ohne einen alten, damals achtzigjährigen Bauern und Hirten gemacht. Dieser Ovidio Marras klagte 2010 gegen das Konsortium, weil ihm ein Weg zu seiner Wohnkate und zu seinen Ställen kurzerhand überbaut worden war. Zwar hatte man ihm einen neuen Weg angelegt, doch Ovidio blieb stur und wollte seinen alten Weg wieder haben. Mit Unterstützung der Naturschutzvereinigung Italia Nostra konnte der Alte sein Recht durch alle Instanzen durchsetzen. Der Fall schlug internationale Wellen. Medien vom Guardian bis zur SZ feierten den Sieg das David Hirten gegen den Othello Großkonzern.

© GrIG

Wo früher Oliven wuchsen und sich der Duft der Macchia verbreitete: Baustelle am Capo Malfatano

Zugleich strengte Italia Nostra erfolgreich Verfahren wegen Umgehung einer ganzen Reihe von Vorschriften des Naturschutzes an. Eine Folge von Urteilen bis zur letzten nationalen Instanz im Staatsrat ließen das gesamte Bauprojekt, von dem zu dem damaligen Zeitpunkt bereits einer von fünf Baulosen umgesetzt war, scheitern.  Im Jahr 2018 gab das Konsortium Sitas auf und meldete Konkurs an. Vor einem halben Jahr, Januar 2024, starb Ovidio im Alter von 93 Jahren (hier ein Bericht). Doch die halbfertigen Bauten, teilweise von Natur überwuchert, verschandeln immer noch die Landschaft. Und die Böden müssten bonifiziert werden. Aber nichts geschieht.

Der Fall liegt in den Händen eines Konkursverwalters, und es ist nicht klar, ob und wer die Bauruine abreißen muss. „Es besteht die Gefahr, dass etwas Ähnliches passiert wie in der nahe gelegenen Baia delle Ginestre: Jahrelange Rechtsstreitigkeiten, bevor es zum Abriss der nicht genehmigten Gebäude kommt, in einem Gebiet, das nie von Schutthaufen befreit wurde und in dem niemand die Kosten für die Umweltsanierung zu übernehmen wollen scheint.“ So der Kommentar in einem Artikel der Tageszeitung „Domani“ bereits im November 2020.

Viele Fragen offen

Daran hat sich bis heute nichts geändert, wie die Anwältin Maria Paola Morittu, Präsidentin der Sektion Sardinien von Italia Nostra, im Gespräch mit Cluverius bestätigt. Zu viele Rechtsfragen und Eigentumsfragen seien noch offen. Auch sei die Gefahr nicht auszuschließen, dass jemand das Projekt aus der Konkursmasse aufkaufen könnte und versuchen würde, es wenigsten teilweise dennoch umzusetzen.

Das Problem ist in ganz Italien dasselbe: Es sei leicht, Vorschriften zu umgehen und zu bauen, schwieriger sei es, das loszuwerden, was dann in der Schwebe bleibe, wie im Fall von Malfatano. „Wir befinden uns in einer Situation des Stand-by,“ so Maria Paolo Morittu. Es komme darauf an, wachsam zu bleiben und die Entwicklung genau zu beobachten.

Kultur und Sprache Sardiniens

Zurück zum Film: Anna geht es nur in zweiter Linie um Naturschutz, sie kämpft um ihr Leben, ihre Freiheit, auch gegen patriarchalische Strukturen, Archaik und versteckte Gewalt in den Familien. Der Regisseur Marco Amenta, der aus Sizilien stammt, inszeniert mit viel Einfühlungsvermögen in die Kultur und Sprache Sardiniens – der Film ist teilweise italienisch untertitelt. Amenta hat sich offensichtlich an der Geschichte von Ovidio, den er auch persönlich treffen konnte, orientiert, ohne sie zu übernehmen. Als Vorbild für die Figur der Anna kann man eine resolute Nichte Ovidios vermuten, die an dessen Seite die Kämpfe um Recht und Anstand mit Verve unterstützt hatte (und heute noch weiter führt).

Der mehrfach ausgezeichnete Film stellt sich natürlich auf die Seite Annas, ihren Mut der Verzweiflung, auch dort, wo sie mit Ungerechtigkeiten sich selbst im Wege steht. Eine Vollblutrolle für die 1996 in Cagliari geborenen Schauspielerin Rose Aste. Ihr nimmt man jeden Gefühlsausbruch und auch jeden Handgriff – und sei es das Melken einer Ziege – ab. Parteilichkeit und Realismus liefern gleichsam eine südeuropäische Version des Kinos von Ken Loach. Als Mitstreiter und gelegentlicher Gegenpart tritt ein junger Rechtsanwalt (Marco Zucca) auf. Dass sich zwischen Anna und ihm auch eine sentimentale Beziehung entwickelt, gehört vielleicht nicht zu den Stärken des Films. Zu seinen Stärken gehört aber, dass er deutlich macht, wie ein Großteil der lokalen Bevölkerung durchaus den von den Investoren geweckten Traum von einem besseren Leben und der Überwindung der Armut annimmt und bereit ist, dafür kulturelle Wurzeln und den natürlichen Reichtum ihrer Heimat im wahrsten Sinne des Wortes zu verkaufen. © Fandango

Anna. Mit (u.a.) Rose Aste, Daniele Monachella, Marco Zucca. Regie: Marco Amenta. Buch: Anna Mittone, Niccolò Stazzi, Marco Amenta (Mitarbeit: Tania Pedtoni). Kamera: Giovanni Lorusso. Schnitt: Aline Hervè. Produktion: Eurofilm (Simonetta Amenta) mit Rai Cinema. Vertrieb: Fandango. 119 Min (Italien 2024)

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