DIE FREIHEIT DER UNGEHORSAMEN


In Italien gefeiert: Beatrice Salvionis Debütroman „Malnata“ ist jetzt auch auf Deutsch erschienen.

© Cluverius

„Wenn die Malnata über das Kopfsteinpflaster von Monza schlurfte, beeilten sich die Frauen das Kreuz zu schlagen und die Männer spuckten auf den Boden. Die Malnata steckte dann die Zunge heraus und verneigte sich laut lachend, als wäre sie dankbar für diese Beleidigungen“ – (Murales am Naviglio) 

Mailand – Mit ihrem kleinen Bildungsroman „Malnata“ ist der 1995 geborenen Beatrice Salvioni ein vielversprechendes Debüt gelungen. In ihm erzählt die Autorin die Geschichte einer Freundschaft zweier ungleicher Mädchen an der Schwelle des Erwachsenwerdens. Die Handlung spielt in einer norditalienischen Provinzstadt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung im Faschismus und dem Ausbruch des Abessinien-Kriegs 1935. Francesca, Tochter aus „gutem“ Haus, die zur Anpassung an traditionelle Rollenbilder erzogen wird, findet während eines Sommers über die Begegnung mit Maddalena, einem Mädchen aus der Unterschicht, die als „Malnata“, als die Ungezogene und die Unheilbringende verschrien ist, zu Selbstbewusstsein und mutigem Auftritt.

Als Ort der Erzählung dient die Stadt Monza am Lambro-Fluss unweit von Mailand, aus dem auch die Autorin stammt. Anfangs nur von der Ferne sieht Francesca, was ihr verboten ist: ein wildes Spiel von Maddalena mit zwei Jungs unter einer Brücke am Lambro zwischen Schlamm und spitzen Steinen beim Fangen von Fischen und dem Jagen von Eidechsen. Nach und nach aber nähert sie sich heimlich der Malnata an. In diesem Sommer spürt Francesca bei aller Unsicherheit und inneren Zerrissenheit endlich das Gefühl von Freiheit, nach der sie sich unbewusst immer gesehnt hat – eine Freiheit durch Ungehorsams. Sie erkennt die Verlogenheit von Regeln und lernt, den Vorgaben einer rein männlich geprägten Gesellschaft zu misstrauen. In der dramatischen Zuspitzung der Handlung lernt sie am Ende auch, dass man für Freiheit eintreten muss.

© Leonardo Cendamo

Beatrice Salvioni, geboren 1995 in Monza, Studium an der Uni Mailand und an der Scuola Holden (von Alessandro Baricco gegründete Schreibschule) in Turin

Die Autorin erzählt einnehmend aus der Perspektive von Francesca und überlässt die Wirkung ihrer Geschichte ganz dem Handlungsverlauf, der sich zwischen Selbstbefragung, spannenden Szenen und knappen Dialogen abwechslungsreich und gleichsam drehbuchreif entwickelt. Souverän weiß sie sich in die Zeit des Faschismus einer Provinzstadt, seine Rituale und seinen Anpassungsdruck hineinzudenken. Ebenso souverän und flüssig überträgt Anja Nattefort in ihrer Übersetzung das italienische Original („La Malnata“, Einaudi 2023), das landauf landab gefeiert (aber auch diskutiert) wurde.

Wie schwer es ist, „groß“ zu werden

Vielleicht hätte man sich über das etwas abrupte Ende hinaus eine Vertiefung der Entwicklung von Francesca gewünscht, deren „Reife“ gleichsam skizzenhaft bleibt. Auch glaubt man, von einigen Klischees abgesehen, an dem gekonnten Aufbau der Nebenfiguren und ihrem Rollenverhalten die Ausbildung zu spüren, die Beatrice Salvioni an der Turiner Schreibschule Holden durchlaufen hat. Doch „Malnata“ ist ein Buch, das man gerne liest und das nachklingt. Was heißt es, „Frau“ zu sein, und wie schwer ist es, „groß“ zu werden und eine eigene Identität zu entwickeln. Und die Botschaft, sich patriarchalischem Denken und faschistischen Strukturen zu widersetzen, kann ganz aktuell verstanden werden. Ein Buch, das neugierig auf die weitere Entwicklung der heute 29-jährigen Autorin macht.

Beatrice Salvioni: Malnata. Roman. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Penguin Verlag, München (2024). 272 Seiten, 24 Euro